„Wozzeck“ ist ein Stück zu sozialen Problemen im kleinstädtischen Deutschland des frühen 19. Jahrhunderts. Die in der Phase des großen gesellschaftlichen Umbruchs nach dem ersten Weltkrieg in Musik gesetzten Szenen verhandeln die durch eskalierende Krisen erschütterte Beziehung von Marie und Franz. Weder die Vorlage Georg Büchners noch der vom Komponisten eingerichtete Text nehmen direkt auf militärische Kampfhandlungen Bezug. Dennoch scheinen die Schatten des Kriegs auf den düsteren und gewalthaltigen Szenen von „Woyzeck“/„Wozzeck“ zu liegen. Die aktuellen Produktionen tragen dem Rechnung.
„Wozzeck“ ist der Musiktheaterliebling der Saison. Bei den Salzburger Festspielen hat William Kentridge die Tragödie des introvertierten Soldaten, der in seiner Kaserne gemobbt wird und wegen des geringen Solds nebenbei Taglöhnerarbeiten für einen Hauptmann und den standortansässigen Arzt verrichtet, auf eine nach hinten ansteigende schräge Ebene beordert. Sie wurde von Treppen, Absätzen und Stegen strukturiert und von Kohle- und Tusch-Zeichnungen animiert. Filmgerät der Zwischenkriegszeit wartete zusätzlich mit Bildern von Soldatenleichen im Sumpf auf, mit geborstenen Bäumen, Stacheldrahtverhau und einer abgestürzten Propellermaschine. Erinnerten die Wirtshausszenen im Haus für Mozart an Breughelland, so gewannen schließlich die Bilder von den Schlachten um die südwestbelgische Stadt Ypern im Jahr 1917 die Oberhand. Kaum verwunderlich, dass in einem von Kriegsdrohungen überschatteten Sommer 2017 ein solcher virtuoser Historismus der Produktion als beklemmend aktuell empfunden werden konnte.
Nun hat auch Robert Carsen im Theater an der Wien Alban Bergs Pioniermusiktheaterwerk von Anfang bis Ende auf die Sphäre des Militärwesens bezogen, dabei aber einen völlig anderen Zugang gewählt als Kentridge. Die Bauelemente rechts und links der von hintereinander gehängten Vorhängen strukturierten Bühne sind ebenso wie der Boden mit Tarnanstrich versehen und die Stoffe der Brecht-Gardinen mit derselben fahlen Farbkombination bedruckt. Wozzeck putzt dem Hauptmann die Schuhe – rasieren kann sich der Offizier selbst elektrisch. Franz Wozzeck und sein Kamerad Andres schneiden keine Weidenruten mehr, sondern bessern den Anstrich des Bodens aus. Die Szenenfolge wurde von Gideon Davey so sparsam wie möglich möbliert. Am aufwändigsten noch die Praxis des Doktors, den Stefan Cerny mit autoritativer Stimme und dem scharfgeschnittenen Ehrgeiz eines auf ewigen Ruhm erpichten Wissenschaftlers ausstattet. Ebenso böse präsent und menschenverachtend profiliert sich John Dezak als Hauptmann. Die jovialere Variante des provinziellen Machtmenschen verkörpert Aleš Briscein, der hochpotente Tambourmajor. Lise Lindstrom, das „arme Weibsbild“, erscheint gegenüber diesen Figuren, die der sozialen Wirklichkeit an einer Peripherie Europas im späten 20. Jahrhundert entstammen könnten, wie eine Frau, die in einer grau-tristen Nachkriegszeit den Lebensunterhalt mit Prostitution verdient. Stimmlich und gestisch agiert diese Marie ggf. energisch; die Bibelleseszene gelingt ihr so anrührend wie die Bangigkeit der „Schlechtmenschin“ am dunklen Waldesrand.
Zugunsten des Kammerspiels verzichtet Carsen auf eine realistische Wirtshaus- oder Kirmes-Szene und auf wie auch immer geartete Naturbilder. Eine besonders glückliche Fügung für die Produktion ist die Besetzung der Titelpartie mit dem in Wien bestens eingeführten und beliebten Bassbariton Florian Boesch, der den sozialen Underdog pointiert.
Unerfindlich ist, warum im Theater an der Wien eine reduzierte Orchesterfassung gespielt wird, die ein mäßig talentierter deutscher Dirigent für ein randständiges kleines Festival in Nordrhein-Westfalen angefertigt hat. Für die größere Textverständlichkeit, die sie bauartbedingt ermöglicht, lässt sich auch bei Beibehaltung der Originalinstrumentation sorgen. Und Leo Hussain ist durchaus zuzutrauen, dass er die vernünftiger gestellte Aufgabe ebenfalls gut gelöst hätte.
Wie tot liegen die Soldaten nach ihrem Besäufnis. Sie erstehen auf und gehen ab – wohin auch immer. Noch einmal an eine Front? Oder den Befehlsverweigerungen vom November 1918 entgegen? Robert Carsen gibt nicht den kleinsten Fingerzeig und bleibt ganz allgemein. Offensichtlich hat er nicht nur auf die Salzburger Bilderflut im Allgemeinen mit einem asketischen Kontrapunkt reagiert, sondern im Besonderen auch auf die Verortung des Kriegerischen bei einer speziellen Schlacht. Maries Kind reitet schließlich, „hopp, hopp“, nicht auf einem Steckenpferd, sondern auf einem Karabiner.
Man kann gespannt darauf sein, wie sich Stefan Herheim in wenigen Tagen an der Deutschen Oper am Rhein in Düsseldorf den Herausforderungen des einst so sehr aus dem wirklichen Leben gegriffenen Stücks stellt.