Die „West Side Story“ gehört fest ins etablierte Musical-Repertoire, auch Leonard Bernsteins „Candide“ wird häufig inszeniert – dagegen steht „On The Town“, Bernsteins 1944 entstandenes Erstlingswerk in Sachen Musical, kaum einmal auf den Spielplänen. Jetzt bricht das Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen eine Lanze für dieses Stück und erzielt musikalisch wie szenisch einen Volltreffer.
Endlich Landgang! Gabey, Chip und Ozzie fiebern ihm seit langem entgegen, schließlich sind die drei Matrosen das erste Mal in ihrem Leben in – New York! Für ihre je persönliche Entdeckungsreise bleiben ihnen allerdings gerade mal 24 Stunden. Das ist nicht viel Zeit. Nicht für Ozzie, der um jeden Preis eine tolle Frau erobern will, nicht für den bildungshungrigen Chip, der schon eine Sightseeing-Tour exakt getimt hat, auch nicht für Gabey, den Romantiker, der sich in der U-Bahn auf den ersten Blick in Ivy Smith verliebt. Oder besser: in ihr Gesicht, wie es von einem Plakat im Waggon herabschaut. Da hat’s bei ihm gefunkt, von jetzt auf gleich. Deshalb bleibt ihm nichts anderes übrig, als in ganz New York nach dieser Ivy zu suchen. Seine beiden Kumpel helfen ihm dabei – und los geht ein tolles Abenteuer voller unvorhergesehener Begegnungen.
Leonard Bernsteins „On The Town“ ist ein temporeiches Feuerwerk der Gefühle: traurige, freudige, sentimentale und euphorische. Und genau so bringt Regisseur Carsten Kirchmeier es auch auf die Drehbühne mit riesigen Transportkoffern und –kisten, die sich auftürmen wie die New Yorker Skyline. Im Handumdrehen entsteht daraus das Taxi, mit dem Hildy durch die Stadt flitzt und dabei einen der Matrosen aufgabelt: Chip, für seinen Freund auf der Suche nach der Frau vom Plakat. Jetzt funkt’s auch hier – und Chip landet prompt in Hildys engem Etablissement und auf deren Couch. Die zweite Liebe auf den ersten Blick! Etwas länger dauert es bei Ozzie, der seine Suche im Museum startet und dabei zufällig auf Claire trifft. Die Bühne (Jürgen Kirner) ist zu einem Ensemble aus Vitrinen mutiert. Claire hat offenbar ziemlich schmalspurhaft nur Augen für ihre Wissenschaft, die Anthropologie – bis es auch bei ihr endlich „Klick“ macht. Allemal scheint ihr der smarte Matrose aufregender als dieser andere Typ, der sich heute mit ihr verloben will: der steifliche, aber immerhin reichlich vermögende Richter Pitkin Bridgework. Ein paar Handgriffe der Bühnentechnik – und schon steht das mondäne Luxusappartement des Juristen parat.
Aber was ist mit Gabey? Er ist seinem Idol vom Plakat namens Iyv Smith dicht auf der Spur, begegnet ihr schließlich beim Gesangsunterricht, beide verabreden sich – weil auch hier Amor seinen Pfeil treffsicher platzieren konnte – am Time Square. Weshalb Ivy dort aber nicht erscheint, diese Frage sorgt für mindestens eine halbe Stunde quirligsten Musiktheaters. In etlichen Nachtclubs und Bars wird gesucht, und zwar von allen zusammen: Hildy und Chip, Ozzie und Claire – und natürlich Gabey. Eine Wahnsinns-Fantasie entwickeln Regie und Ausstattung für diesen irren Gang durch New Yorks Nachtleben. Natürlich wird rauschend viel getanzt. Da trifft es sich überaus gut, mit Bridget Breiner eine Choreografin am Gelsenkirchener Musiktheater zu haben, die mit ihrer Compagnie unablässig Funken aus Bernsteins Musik schlagen kann, bis hin zu jener Szene im Vergnügungspark Coney Island, wo sich in einer irgendwie türkisch angehauchten Bauchtanz-Show niemand anderes ihr Geld verdienen muss als – Ivy Smith! Gabey ist an seinem Ziel, doch die 24 Stunden Landgang sind so gut wie vorüber. Ab in den Hafen, wo schon die nächsten namenlosen Matrosen mit glänzenden Augen vom Schiff kommen, um die große Stadt (und mehr) zu erobern!
Carsten Kirchmeiers Inszenierung ist rundherum absolut gelungen. Sie ist spritzig und farbenfroh – und findet ihre Entsprechung im Orchestergraben, in dem Rasmus Baumann die Neue Philharmonie Westfalen sowohl zu knackigem Big-Band-Sound animiert als auch zu lyrischen, ja geradezu „verliebten“ Tönen. Gesungen wird fabelhaft, vor allem vom Matrosen-Trio (Piotr Prochera, Michael Dahmen, E. Mark Murphy) und den drei „Eroberungen“ (Julia Schukowski, Judith Jakob, Dorin Rahardja). Dazu Renée Listerdahls fantasievolle Kostüme im Stil der 1940-er Jahre... ein Vergnügen.
Weitere Termine: 8., 9., 14., 16., 20. und 23. Februar, 1., 2., 7., 9. und 16. März