Als „kontemplativ-interaktive Performance-Reihe“ wird die Kooperation von STEGREIF.orchester, Neuköllner Oper und Prinzessinengarten Kollektiv beworben. Die drei Teile sollen vom Winter in den Frühling führen, von den Räumen der Neuköllner Oper in der Karl-Marx-Straße über die Kiezkapelle an der Hermannstraße bis zum danebenliegenden Prinzessinengarten. Der erste Teil „Moon Music I: Abschied“ wurde nun, gespickt mit einigen Videoaufnahmen, per Zoom live aus der Neuköllner Oper gestreamt.
Die aktuelle Zeit der Online-Formate ist eine Zeit der Debüts im digitalen Rahmen. Wenn es sich nicht um banales Streaming von Veranstaltungen handelt, sondern wirklich der Versuch unternommen wird, etwas Neues zu probieren, gleicht kaum eine Herangehensweise der anderen. Dies wirft auch die Frage nach Einordnung und Terminologie auf, um in dem, was Bühnenschaffende hier produzieren, Alleinstellungsmerkmale festzumachen und die Form so von den unterschiedlichsten Formaten der Medienwelt – wie Gaming oder etwa Livestreaming auf YouTube und besonders Twitch – abzuheben. Was die Terminologie angeht verweist die Reihe „Moon Music“ bereits auf einen Übergang zwischen virtueller und realer Welt durch den verheißungsvollen Untertitel: „Eine musikalische Metamorphose“.
Abhebende Ansagen
Willkommen heißt das digitale Publikum Anne-Sophie Bereuter, die – wenn sie nicht gerade als Geigerin musiziert oder gar singt – an vereinzelten Stellen moderiert und durch den Abend führt, ihre Rolle dabei auch mal ins sympathisch Manische überspitzend, stets in gefasster Haltung. Auch der sich zeitweise geradezu aufdrängende Charakter von Sicherheitsanweisungen aus dem Flugzeug wird an späterer Stelle ausgespielt. Doch diese Momente sind nur Inseln der Konkretisierung und ironische Brechungen innerhalb des sonst assoziativen Geflechts von Monologen und Overvoices, die sich zwischen und über die Musik schieben.
Trotz des hohen Abstraktionsgrades der von Dramaturgin Änne-Marthe Kühn sowie Maria Reich und Justus Wilcken aus dem Ensemble verfassten Texte entsteht durch die Worte ein weit blickenlassender Gedankenraum, wenn es etwa heißt: „Schreiben heißt sehen, lesen heißt erkennen … Lesen ist ein Lesen des Anderen, aber mehr noch ist es ein Lesen von uns selbst im anderen.“ Projektion und Selbstreflexion, Prozessualität und Zyklizität durchziehen die Inszenierung unter Regisseurin Selina Thüring – eine Formsprache, in der leuchtende Klarheit einem nebulösen Schleier entgegensteht und postkatastrophische Nachwehen von Hoffnungsschimmern durchbrochen werden. Der Mond als Topos und Projektionsfläche prägt auch die optische Umsetzung der Ausstattung von Ivan Ivanov, sei es durch den immer wiederkehrenden Modellmond, die mystisch leuchtenden Lichtkugeln oder die transparenten Raumfahrthauben, die die Darstellenden zeitweilig tragen. Hinzu kommt: Bei allen ist die vom Betrachter aus rechte Gesichtshälfte schwarz geschminkt, was auf die aktuell herrschende zunehmende Mondphase verweist.
Musikalische Körperlichkeiten
Stile verschwimmen in der von den Instrumentalistinnen selbst komponierten und arrangierten Musik, die zudem der Improvisation weit geöffnet ist. Das Experimentelle ist nicht nur im vorangegangenen Schaffensprozess zu verorten, sondern auch im Moment der Klangerzeugung selbst. Das reine Streichensemble schabt, schnattert, spielt Glissando-Girlanden, dann wieder ausschweifende weite Bögen. Die Klangebenen changieren zwischen Individualexpressivität und kollektiver Séance. Doch wer das Stegreiforchester kennt, weiß, dass dieses Ensemble nie einfach nur musiziert, sondern stets auch auf die Szene drängt und zu Dingen bereit ist, zu denen konventionelle Orchestermitglieder kaum zu bewegen wären.
So zeigt eine längere Videosequenz die Entkleidung der Cellistin Julia Biłat während des Spielens ihres Instruments, angefangen beim Mund-Nasen-Schutz. Der zum Scheitern verurteilte Versuch von Sterilität löst sich schließlich vollends auf im anschließenden durchaus graziösen Eintauchen in eine Badewanne voller Dreck. In der darauffolgenden Szene vollführt Bariton Justus Wilcken in der rätselhaften Rolle des Königs einen inneren Kampf, zunächst rein gestisch, bevor er ins kraftvolle Singen übergeht. Die Maske abgelegt spricht er in seinem Monolog: „Ich habe Angst zu zerbrechen an der Verantwortung für den Frühling. Es liegt immer nur an mir.“
Schein und Projektion
„Die Welt ist der Spiegel in dem wir uns erkennen“, leitet der Schlussmonolog von Bratschistin Maria Reich den letzten Teil des Abends ein. Standhaft, aber nicht starr vorgetragen, kreisen hier nochmals die Ideen umeinander. „Du bist meine Welt und ich bin deine Welt. Wir sind alle Sonnen. Wir strahlen die Monde an und sie scheinen.“ – Sind die Monde also nur, weil sie angeschienen werden? Sind sie reiner Schein? Können wir durch unser Strahlen bestimmen, ob sie sind oder nicht?
Die Sorgen der Welt
In diese Gedanken hinein heißt es: „Willkommen zurück“ – und an weiterer Stelle: „Die Mondin kann den König retten“. Dazu wird nun das Publikum aufgerufen, „in sich zu horchen und wahrzunehmen, ob es etwas gibt, das Sie loslassen möchten“, was dann privat oder öffentlich in den Chat geschrieben wird. Das Ergebnis ist ein wenn auch nicht repräsentativer, so doch durchaus erkenntnisbringender Querschnitt durch Sorgen, Ängste und Probleme. Natürlich scheint da die aktuelle Situation durch, wenn Einsamkeit, Entfremdung, innere Dunkelheit oder auch Corona, Trump und der Sturm aufs Kapitol genannt werden. Auch intime Aussagen werden geäußert: rauslassen was meine Familie mir angetan hat; die Angst des Verlustes meines ungeborenen Babys loslassen. Ebenso lassen sich die immerwährenden Themen finden, die auch Oper definieren: Schmerz, Kampf, Neid, Geiz oder etwa bestimmte Vorstellungen von Liebe.
Doch ein Komplex scheint sich besonders hervorzutun: das Gefühl nicht zu genügen, Last, Perfektionismus, die Vorstellung allein für jemand anderen Glücks zuständig zu sein, Verpflichtungen. Es sind die Sorgen, die unmittelbar mit der eigenen Verantwortung zusammenhängen. Es sind die Ängste, nicht mehr zu wissen, wie man richtig zu handeln hat und an diesem Druck letztendlich zugrunde zu gehen. Kein Wunder in diesen ungewissen Zeiten, in denen Wahrheit eine leere Hülse geworden zu sein scheint, in denen richtig und falsch gehäuft nah beieinander liegen und in denen wieder und wieder deutlich wird, dass sich bestimmtes persönliches und gesellschaftliches Handeln oft auch im Nachhinein nicht eindeutig als besser oder schlechter bewerten lässt.
Weniger gutwillig ließe sich auch das Bild konstatieren: Eine überforderte Gesellschaft, die schon lange vergessen hat, worum es im Leben eigentlich geht, wird sich viel zu spät ihrer Verantwortung bewusst. Bezeichnend auch, dass viele Loslassen mit Entfernen vermischen. Loslassen bedeutet hier aber doch eher: Nicht mehr festbeißen, aber die Koexistenz akzeptieren, tolerieren. Vielleicht ginge es eigentlich darum, den Mond, die Projektionsfläche loszulassen, um sich endlich unmittelbar mit sich selbst zu beschäftigen. Auf den zweiten Teil vorausweisend heißt es zum Schluss: „Wir haben die Mondin gefunden. Wir haben losgelassen. Beim nächsten Mal besteigen wir den Berg. Wir tragen eure Lasten mit Liebe.“
Nachwort
Auch wenn die Internetverbindung dem noch immer schlechten Ausbau in Berlin geschuldet manchmal nicht ganz stabil ist, so dass „Zoom“ durch das Stocken gewissermaßen mitmusiziert; auch wenn die Abmischung und der Tonschnitt nicht durchgehend einwandfrei geglückt sind; auch wenn die Energie der Darstellenden durch den Bildschirm zwar wahrgenommen, aber nicht miterlebt werden kann – die grundlegenden Gedanken vermitteln sich. Die Möglichkeiten des Mediums „Zoom“ wurden einzig für die Interaktion genutzt und nicht so virtuos, wie von andernorts berichtet. Aber „Moon Music“ drängt schließlich auch aus dem digitalen Rahmen hinaus, denn die vom Publikum geäußerten Wünsche sollen „als Monde“ in die Prinzessinnengärten getragen werden. Durch diese Mithilfe ermögliche man den Start in die Veränderung. Wie diese Veränderung aussehen wird, kann man im Februar und März erfahren.