Gelber Bühnenrahmen, schwarzer Hintergrund. Aus dem Nichts tauchen Wozzeck und der Hauptmann auf. Wie im Kasperletheater lässt Regisseur Andreas Homoki die Figuren von unten hinter der hüfthohen Bande hochschnellen. Wozzeck schaut ins Leere, während der skurrile Hauptmann über die Ewigkeit sinniert. Generalmusikdirektor Fabio Luisi entwickelt mit der Philharmonia Zürich einen kammermusikalischen, ganz beweglichen Ton.
Georg Büchners erschütterndes Dramenfragment, das Alban Berg in eine streng konstruierte, dreiaktige Oper verwandelt hat, beginnt in Zürich fast so leicht wie eine Komödie. Aber schon bald wird der Witz zur beißenden Groteske. Und die Bretterbude verwandelt sich zu einer vielschichtigen Theaterlandschaft, die zur finalen Katastrophe ganz in Schieflage gerät, ohne dem spielerischen Moment des Abends Gewalt anzutun.
Andreas Homoki und Michael Levine (Bühne und Kostüme) erzählen das Sozialdrama nicht als realistisches Betroffenheitstheater, sondern überzeichnen die Figuren expressionistisch. Das anfangs so einfach erscheinende Bühnenbild erhält ein Eigenleben. Es gebiert im Hintergrund immer weitere, sich verjüngende Rahmen. Und entwickelt die Sogwirkung einer Spirale. Rückwände verschieben sich und drohen, die weiß geschminkten Figuren einzuquetschen. Ein geniales Bild für das beängstigende, labyrinthische System, in dem alle bis auf Wozzeck degeneriert erscheinen. In seinem fulminanten Rollendebüt meidet Christian Gerhaher jeden naturalistischen Ton. Auch wenn Wozzeck aufschreit, behält der lyrische Bariton die stimmliche Kontrolle. Alles macht Gerhaher zu Gesang. In den vielen kantablen Passagen zeigt er liedhafte Differenzierung und eine berührende Innensicht der Figur. Dass dieser Wozzeck, der mit seinem gelb-schwarzen Kostüm die Bühnenfarben reflektiert, nicht nur „verhetzt aussieht“, sondern unter einer echten psychischen Krankheit leidet, ist in dieser Interpretation unzweifelhaft. In der vierten Szene des ersten Aktes erscheinen plötzlich fünfzehn weitere Doktoren, die ihn bedrängen. Die erste Wirtshausszene im zweiten Akt wird auf den verschiedenen Bühnenebenen von zwei Dutzend Wozzecks bevölkert, die grinsend salutieren und dabei ein Bein senkrecht in die Luft strecken. Virtuos setzt die Regie die Sinnestäuschungen des Protagonisten um. Das geniale Bühnenbild verbindet wie Alban Bergs Musik formale Strenge mit größter Expressivität. Und verleiht den vielen Auf-und Abgängen Tempo und Witz, wenn sich die Figuren einfach fallen lassen können, um vor dem Auge des Zuschauers zu verschwinden.
Natürlich haben auch die spielfreudigen Solisten und der Chor (Einstudierung: Jürg Hämmerli) großen Anteil an diesem herausragenden Musiktheaterabend, der die Messlatte nicht nur in Zürich gleich zu Saisonbeginn hoch legt. Wolfgang Ablinger-Sperrhacke gibt den Hauptmann als überdrehten Kauz mit greller Höhe. Lars Woldt ist ein imposanter Doktor mit bedrohlich-mächtigem Bassbariton und bösem Blick. Gun-Brit Barkmin zeichnet Maries gesamte emotionale Bandbreite von der sorgenvollen Mutter bis zum sexfreudigen Vollweib, das sich mit dem Tambourmajor (stimmlich zu wenig präsent: Brandon Jovanovich) vergnügt. Nur in den hoch liegenden, expressiven Passagen, in denen sich ihre Verzweiflung Bahn bricht, beginnt ihr klar fokussierter Sopran ein wenig zu flackern.
Wozzecks Mord an ihr mit dem Rasiermesser entsteht in Homokis packender Inszenierung aus einem idyllischen Zusammensein der beiden. Der rothaarige Kopf, den der Vater ihres Kindes nach der Tat in der Hand hält, wirkt umso schockierender. Die beiden scharfen Orchestercrescendi danach verstören. Und leiten in Zürich direkt über zur zweiten Wirtshausszene, in der die als Marie verkleideten Choristen zur aufgepeitschten Musik mit dem Kopf wackeln. Fabio Luisi schenkt jedem Detail Aufmerksamkeit und bringt mit der hervorragenden Philharmonia Zürich und ihrer behutsamen, warmen Tongebung diesen „Wozzeck“ zum Leuchten. Am Ende ein letzter Geniestreich: Die Kinder, die den Tod Maries herausplappern, verkörpern die Erwachsenen. Maries Sohn (Alessandro Reinhart) singt das helle Hopp-Hopp im ähnlichen schwarz-gelben Kostüm des Vaters. Und seine gleich angezogene Puppe schaut traurig ins Parkett.
- Weitere Vorstellungen: 16./19./22./25./29. Sept, 6. Okt. 2015. www.opernhaus.ch