Mit seiner Musiktheater-Performance „Walk the Walk“ befragt der dänische Komponist und Medienkünstler Simon Steen-Andersen den Akt des Gehens in seinen unterschiedlichsten Ausprägungen und medialen Spiegelungen. Nachdem im September 2020 die Uraufführungsproduktion im Alten Orchesterprobensaal der Staatsoper Berlin nach nur drei Terminen den Corona-Auflagen zum Opfer fiel, startete vergangenen Freitag deren Wiederaufnahme am selben Ort in einer auf 90 Minuten erweiterten Fassung.
Das Gehen ist nicht nur ein zutiefst alltäglicher Vorgang, sondern auch eine der einfachsten Aktionen, die auf einer Theaterbühne stattfinden kann. Darüber hinaus ist es ein genuin musikalisches Element, untrennbar verknüpft mit Begriffen wie Puls, Geschwindigkeit, Rhythmus, Richtung, Synchronizität oder kinetischer Energie. Aus diesem Kontext heraus hat Simon Steen-Andersen sein Stück „Walk the Walk“ entwickelt, das – charakteristisch für viele Arbeiten des Komponisten – im Übergangsbereich von (Musik-)Theater, Installation und Medienkunst angesiedelt ist. „Walk the Walk“, im Untertitel ausgewiesen als Arbeit „für vier Performer, Laufbänder, Objekte, Licht und Rauch“, setzt sich aus zahlreichen Einzelszenen zusammen, die allesamt um das Phänomen des Gehens kreisen und es auf seine akustischen und visuellen Möglichkeiten hin abtasten. Dabei lässt sich Steen-Andersen von vielerlei Quellen und Objet trouvés aus Wissenschaft, Literatur, Musik sowie den Massenmedien Film, Fernsehen und Internet anregen, die er einer Transformation unterzieht und jenseits ihrer ursprünglichen medialen Gestalten als analoges Theater mit teils verblüffenden handgemachten Effekten auf die Bühne stellt.
Herzschläge, Schritte und Schubert
Dass Steen-Andersen besonderen Wert auf die enge Verzahnung unterschiedlicher Wahrnehmungsmodi legt, macht bereits der Beginn deutlich: Im abgedunkelten Aufführungsraum werden ruhige Herzschläge eingespielt, die sich allmählich beschleunigen und irgendwann in den Klang von Schritten übergehen, bevor dieser Prozess wieder umgekehrt wird. Durch sukzessive Konfrontation dieses ersten Eindrucks mit anderen Elementen – etwa dem Aufziehen und Schließen des Bühnenvorhangs, dem Aufleuchten und Erlöschen einer Glühbirne, dem Gehen einer Gestalt von links nach rechts –, kommt es zu sich verdichtenden Ereignisräume, in denen die eingesetzten Theatermittel überraschende Verbindungen miteinander eingehen. Wie die Musik darin ihren Platz findet, zeigt beispielsweise der Vortrag von Franz Schuberts „Wanderers Nachtlied“: Der Klang wird hier mithilfe von schabenden Plastikkarten auf Laufbändern erzeugt, wobei die Wechsel zwischen den Tonhöhen eine jeweils individuelle Regulierung der Laufband-Geschwindigkeit erfordern. Dass es nicht ganz einfach ist, auf diese Weise einen korrekt intonierten vierstimmigen Satz wiederzugeben, die Laufbänder vielmehr häufiges Nachjustieren erfordern, macht den besonderen Reiz dieser Passage aus.
Steen-Andersen bleibt jedoch nicht bei der Arbeit mit Klängen, Requisiten, Licht und Bewegung stehen, sondern reflektiert immer wieder auch mediale Realitäten. Eine der einprägsamsten Szenen bezieht sich auf einen kurzen TV-Clip, in dem ein Geräuschemacher einem Moderator demonstriert, wie sich mithilfe bestimmter Hilfsmittel Schrittgeräusche von unterschiedlicher Qualität erzeugen lassen: Das Reenactment dieser Szene durch zwei Performer wird im weiteren Verlauf des Abends in zwei weitere, zunehmend abstrakte Gestalten überführt: Im ersten Fall wird die ursprüngliche Szene stumm nachgespielt und von zwei weiteren Performern durch Sprache und Geräusche synchronisiert, wodurch eine Trennung von Aktion und Klang erfolgt. Beim zweiten Wiederaufgreifen werden nur noch die Aktionen des synchronisierenden Performerpaars gezeigt, während das ursprüngliche Reenactment fehlt; die Dialoge freilich werden von zwei anderen Musikern durch sprachähnliche instrumentale Artikulationen ersetzt, sodass die Bedeutung der gesprochenen Sprache verschwindet, wogegen die Geräusche simulierter Schritte übrigbleiben.
Narrativer Faden
Dass der Abend wie aus einem Guss erscheint und nicht zur losen Aneinanderreihung von Einzelszenen wird, verdankt sich einerseits dem hier angedeuteten Wiederaufgreifen und Fortschreiben bestimmter Elemente, andererseits aber auch einem narrativen Faden, der in viele Episoden eingewoben ist: Denn Steen-Andersen nimmt sowohl inhaltlich als auch visuell oder akustisch immer wieder Bezug auf die bahnbrechenden wissenschaftlichen Arbeiten von Étienne-Jules Marey (1830–1904). So wird beispielsweise in Dialogen und Bewegungssequenzen Mareys Entwicklung der Einzelbildfotografie zur Rekonstruktion von Bewegungsabläufen referenziert, während die initiale Verbindung von Herzschlag und Schritten auf seine grundlegenden Forschungen zur Physiologie der Herzbewegung verweisen.
Entwickelt hat Steen-Andersen das Konzept für „Walk the Walk“ gemeinsam mit den Mitgliedern des Schweizer Schlagzeugquartetts „Ensemble This | Ensemble That“ (Brian Archinal, Victor Barceló, Miguel Ángel García Martín und Bastian Pfefferli). Entstanden ist dabei eine Musiktheater-Performance, die nicht zuletzt vom präzisen rhythmischen Agieren der vier Musiker profitiert. Dass dieses eben neben vielen perkussiven Elemente auch komplexe Bewegungsverläufe und Schauspielszenen umfasst, macht den besonderen Reiz eines Stückes aus, dessen Theaterzauber man sich nur schwer entziehen kann, zumal der Ideenreichtum bei szenischer Gestaltung und Umsetzung immer wieder zum Staunen ermuntert.
- Staatsoper Unter den Linden Berlin, Alter Orchesterprobensaal.
Weitere Aufführungen am 3., 4., 6., 7. und 8. September 2022