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In den Betten liegend v.l.n.r. Katharina Magiera (Hänsel) und Louise Alder (Gretel), mittig im Hintergrund stehend Elizabeth Reiter (Sandmännchen) sowie die Statisterie der Oper Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus
Hänsel und Gretel an der Frankfurter Oper. Foto: Monika Rittershaus
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Theatralische Parabeln über Weihnachten hinaus – Hänsel und Gretel im Visier

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Reichen Lebkuchen im Werk aus, um Engelbert Humperdincks „Hänsel und Gretel“ zur Weihnachts-Oper schlechthin zu machen? Trug das Datum der gefeierten Uraufführung dieser romantischen Oper im Nach-Wagnerianischen Stil am 23.Dezember 1893 zur Einstufung bei? Oder die eindeutig christliche, alle Armutsproblematik hinweg-beschönigende Grundierung mit dem mehrfach zitierten Luther-Choral „Wenn die Not auf Höchste steigt, Gott der Herr die Hand uns reicht“?

Das galt schon in der Hochindustrialisierung des Kaiserreichs nicht, nicht im 1.Weltkrieg, der Inflation, der Weltwirtschaftskrise, erst recht nicht in den NS-Jahren, leider auch derzeit nicht. Doch alle Spielplan-Statistiken von Freiburg bis Lübeck, von Hamburg bis Dresden zeigen: zu Weihnachten „Hänsel und Gretel“!

Doch wie bitte soll das denn in unseren Jahren auf der Bühne gehen: eine arme Besenbinderfamilie, ein zerbrochener Milchtopf als Drama, Kinder allein im Wald (ohne Handy und Netz!), Sandmännchen, Abendsegen mit vierzehn Englein, dann auch noch eine Hexe im Wald, die von Kindern getötet wird … und am Ende Friede, Freude, Eierkuchen gar unterm Weihnachtsbaum?

Dennoch bieten zahlreiche Gastspiele Humperdincks Märchenoper im Dezember in vielen Städten ohne Theater. Drei Neuinszenierungen an Opernhäusern sind nachzulesen. So versucht zwar das Theater Augsburg einen Hauch von „Mehr als Bühnenspektakel“: siehe nmz-online vom 26.10.2014. Nürnbergs Bühnenteam um Regisseur Andreas Baesler hatte die Handlung in einen großbürgerlichen Salon verlegt: siehe nmz-online vom 03.11.2014.

Einzig das Team um Regisseur Keith Warner wagte an der Oper Frankfurt Erstaunliches. In unserer Zeit, in der Kinder nicht getauft werden, keinen (oder schlechten) Religionsunterricht besuchen, christliche Kindereinrichtungen eine Horrorgeschichte haben und materielle Güter beziehungsweise Erfolg der einzige Maßstab sind, eliminierte Keith Warner alle kirchlichen Bezüge im Werk – und zeigte ein „So sollte es sein!“. Erst nach der Pause, als eine junge Gouvernante eine Bühnenuhr um Jahre „voransausen“ ließ und Hans samt Grete als Erwachsene halb staunend, halb beklommen erneut die Dachmansarde ihres Waisenhauses aus dem 1.Akt betraten, wurde klar: alles zuvor war ein Alptraum ihrer Kindheit mit strenger Gouvernante und gutmütigem Therapeuten als Elternersatz, die „Hexe“ eine aus Kinderträumen auch jetzt noch wiederkehrende schwarze Theaterfigur.

Wald-Nacht und Hexenhandlung wurden zu Angstvisionen der in eine dunkle Kammer weg gesperrten Geschwister - mit Zauberern, Rotkäppchen, der Automatenpuppe Olympia, Hase und Jäger, Richard Wagner, seinen vier Kinder als Siegfried und Walküren… Am Ende bot Regisseur Warner einen schönen Schluss: Der Therapeuten-Vater hatte zuvor schon den Fernseher ausgeschaltet und aus dem kleinen Hexenhäuschen überreichte Hänsel jedem Kind ein kleines Geschenk: ein Buch - Literatur als der choralhaft besungene „Nothelfer“. Zuvor aber, als Finale im Wald, war Warner und seinem Bühnenteam ein Bild gelungen, das man selbst als erwachsener Mensch aus dem Theater mitnimmt: zum „Abendsegen“ fuhr eine Treppe herein – doch statt Engeln stiegen Johann Heinrich Pestalozzi, Bruno Bettelheim, Sigmund Freud, Ellen Key, Gustave Ador, Astrid Lindgren, Janusz Korczak, Erich Kästner, Albert Schweitzer, die Brüder Grimm, Melanie Klein und Charles Dickens herab - vierzehn „Nothelfer aller Kinder“, die man sich gerade in unseren Kriegstagen allenthalben als traumhaft mächtige Helfer wünschen würde – unvergesslich! Humperdincks „Märchenspiel“ mit einer humanen Botschaft nicht nur für „kleine“, sondern auch für erwachsene Besucher (ausführlicher nmz-online vom 13.10.2014).

Alternativen

Unserer vielfältigen Theaterlandschaft würde man aber mehr Entdeckerfreude wünschen. Da hat Wilhelm Kienzl 1907 das Weihnachtsmärchen „In Knecht Ruprechts Werkstatt“ vertont. Hans Pfitzner komponierte 1917 die ganz auf Weihnachten bezogene Spieloper „Das Christelflein”. Der Italo-Amerikaner Gian Carlo Menotti schuf mit „Amahl und die nächtlichen Besucher“ eine auf das Weihnachtsfest bezogene Spieloper: die „Hlg. Drei Könige“ auf dem Weg nach Bethlehem, dazu Golddiebstahl, Wunderheilung und Korrektur von Fehlverhalten.

Gewiss bieten alle drei Werke nicht ganz so „süffige“ Musik wie diejenige Humperdincks und eine in unseren verunsicherten Tagen wohl deutlicher harmonie-süchtige Gesellschaft findet eben bei ihm „Labung“ – dennoch wäre inszenatorischer Wagemut zu wünschen. München aber besitzt speziell durch das Bayerische Staatsballett eine der Frankfurter Humperdinck-Neudeutung ebenbürtige Festtagstheater-Geschichte: John Neumeiers Deutung von Tschaikowskis „Nussknacker“, in dem der Ballett-Traum der kleinen Clara sie als Ballerina endgültig für die Kunst gewinnt – eine theatralisch traumschöne Emanzipationsgeschichte ohne Zuckerguss, anrührender als das sonstige Weihnachtstheater.

 

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