Was wird aus einem zu Lebzeiten unaufgeführt gebliebenen Werk, wenn es der eigene Sohn inszeniert? Im Falle des Komponisten Paul-Heinz Dittrich machte der Sohn Paul-Georg Dittrich, vom Berufe Regisseur, aus dem Kammerwerk „Bruchstücke“ das Musiktheater „MAUSER Triptychon“ am Mecklenburgischen Staatstheater.
Paul-Heinz Dittrich, der vor allem als DDR-Querulanten-Komponist bekannt war, ließ sich für viele seiner Werke von Literatur inspirieren. Für seine 2016 komponierten sieben Bruchstücke setzte er sich mit Heiner Müllers Lehrstück Mauser auseinander, einer Sterbeszene, in der der Revolutionär A, der einst treu der kommunistischen Partei diente, in Rückblenden sich vor einem Chor rechtfertigen muss. Das Stück endet mit dem Satz „Tod den Feinden der Revolution“. Dieser Satz durchzieht den Schweriner Abend in den Hallen, Gängen und Durchfahrten der einstigen Druckerei der Schweriner Volkszeitung, der sogenannten M*Halle, die seit 2021 als Raum für zeitgenössische Kunst des Mecklenburgischen Staatstheaters dient.
In der Mitte von MAUSER Tripytchon stand allerdings nicht Dittrichs bislang unaufgeführtes Werk, sondern interessanterweise Luigi Nonos Io, frammento dal Prometeo, das zur anderen Seite von Johann Sebastian Bachs O Ewigkeit, du Donnerwort (BWV 60) eingefasst wurde. Nono erfuhr hier eine wunderschöne Aufführung. In der Mitte der Industriehalle war eine künstliche Dschungel-Insel errichtet worden, umgeben von echtem Wasser. Eingefasst war das Szenario durch Bauzäune, hinter denen auf allen vier Seiten das Publikum saß. Darüber hing eine kreisrunde Leinwand, die Szenen aus Kreißsälen und Krematorien zeigte. Zunächst im Wasser stehend und in schwarzen Kutten gehüllt, stieg das Vokalensemble auf die Insel, während die Kutten fallen gelassen wurden, rote Kleider zum Vorschein kamen und die Musik einsetzte. Es war eine herausragende Aufführung des selten aufgeführten Werkes.
Für Bach hatte sich der 1983 geborene Paul-Georg Dittrich eine an Punk erinnernde Inszenierung einfallen lassen, in denen die Solist:innen grün bzw. blau gefärbte Perücken trugen und blauen Sand fegten und schaufelten.
Für das Stück des Vaters war das Geschehen in einen Gerichtssaal verlegt, dessen Einrichtung eine Datierung in die 1970er vermuten ließ. Auf einem laufenden Band fuhren unentwegt Totenschädel hinein. Auf den Bänken der Prozessparteien wurden nach und nach einzelne Zuschauer:innen platziert. Dittrich schrieb sieben musikalische Bruchstücke und so waren es denn auch sieben kleine Szenen, die sich vor allem durch die Instrumentierung unterschieden (1. Flöte, Violoncello, Klavier; 2. Sopran, Flöte, Violoncello; 3. 11 Instrumentalsolist:innen; 4. 2 Soprane, Tenor, Violine, Viola, Violoncello, Kontrabass; 5. 2 Soprane, Tenor und Instrumentalensemble; 6. Tenor und 4 Schlagzeuger; 7. für Klavier-Solo).
Dramaturgisch verbunden waren die drei Teile des Triptychons durch kurze Einlagen eines Schauspielquartetts, das in schwarze Morphsuits gekleidet war und immer wieder Müller zitierte. Erst draußen auf einer Durchfahrt, dann in einem gänzlich dunklen Eingangsraum und schließlich in einem Flur. Was Dittrich, Nono und Bach musikalisch, textlich oder gar politisch verbindet? Es ist fraglich, ob Nono Mauser kannte, welches zwar 1970 geschrieben und 1975 uraufgeführt wurde, aber erst ab den 1980ern regelmäßige Aufführungen erfuhr. Aber jede zeitgenössische Komponst:in von Rang beschäftigt sich mit Bach. Und Nono passte eben gut dazu. Ein Jammer, dass nicht auch noch Anton Webern und Dieterich Buxtehude gegeben wurden. Mögen die Verbindungen zwischen Bach, Nono, Dittrich und Müller irgendwo inhaltlich auffindbar sein, so waren sie musikalisch nicht zu greifen. Die barocke Kirchenkantate, der einstündige Raumklang für Sopran, Vokalensemble, Bassflöte, Kontrabassklarinette und Live-Elektronik und die Bruchstücke des 21. Jahrhunderts für Kleinbesetzungen wirkten wie windschiefe Geraden im dreidimensionalen Raum. Dabei halfen auch die Müller‘schen Scharniere kaum.
Das Publikum ins Stück einbeziehen und es zum Teil des Werkes werden lassen, den Orchestergraben überwinden, für den Regisseur Dittrich liegt daran die Zukunft des Musiktheaters. Vom Publikum wurde an diesem Abend einiges erwartet. Zunächst wurde es nach draußen geführt, musste bei Bach Stehvermögen zeigen, da es keine Sitzgelegenheiten gab, und durfte keine Berührungsängste mit Darstellern und Musiker:innen haben, da die vierte Wand konsequent missachtet wurde. Für jeden Akt wechselte das Publikum den Ort, stand auch schon mal gedrängt in einem kleinen dunklen Raum eng am Schauspieler.
Noch vor Stückbeginn heimlich gemachte Bilder einzelner Zuschauer:innen wurden in Großformat auf eine Leinwand projiziert. Multiperspektive nennt Dittrich jun. das, Missbrauch des Rechts am eigenen Bild vermutlich andere. Welcher Begriff dafür auch gewählt wird, war es vielen anzumerken, dass sie lieber verschont geblieben wären. Gehörte dieses Unbehagen zum Stück? War es Teil der künstlerischen Idee? In jedem Fall würde es noch eine weitere Geschichte hinzufügen.
Paul-Georg Dittrich geht es in MAUSER Triptychon ums Ganze: um Leben und Tod, Freiheit und Revolution. Die eigentliche Uraufführung Paul-Heinz Dittrichs wird dabei zum Seitenstück. Dabei hätte Dittrichs Bruchstücke sich vermutlich ohne historische Hin- und Rückführung sogar ohne Bühnengeschehen sehr gut getragen. Das Werk bietet vielleicht keine Neuerfindung von Musik, Idee oder Kunst, doch hätte es verdient, für sich zu stehen. Insbesondere über dreißig Jahre nach dem Ende von DDR und UdSSR hätte Musik von 2016 eines Komponisten, der Ost- und Westdeutschland kannte und die Wende weit überlebte, eine deutlich aktuellere Ebene finden können als die ständige Deklamation der Texte Müllers.
Zuletzt sei noch zu sagen, dass an Schauspiel und Interpretation rein gar nichts auszusetzen war. Wie bereits beschrieben war es eine grandiose Aufführung Nonos Musik. Und die Interpret:innen Dittrichs Musik schafften es, die Musik filigran zu platzieren, trotz vorheriger zweistündiger Überladung.