Der Trubel um die Glühweinbuden draußen war turbulenter als auf der Bühne das berüchtigte Weihnachtstreiben am Pariser Montmatre um das Café Momus. Die Premiere von Giacomo Puccinis am 1. Februar 1896 in Turin uraufgeführtem Opernhit-Selbstläufer machte im Theater Münster trotz rammelvoller Weihnachtsmärkte der Westfalen-Metropole ein ausverkauftes und zum Ende jubelndes Haus. Bravourös agierten das Sinfonieorchester Münster unter GMD Golo Berg, Garrie Davislim als Rodolfo und bei ihrem Deutschland-Debüt die australische Sopranistin Marlena Devoe.
Tod im Abrisskaufhaus: „La Bohème“ mit Orchester-Sternstunde in Münster
Kinderchor in braver Aufstellung, dazu viel Lametta mit Trubel von flotten Opern- und Extrachor. Das war gefällig und praktisch. Daneben unterliefen der Regisseurin Effi Méndez recht viele Ungereimtheiten in Puccinis Bilderbogen zu Henri Murgers Zeitungs- und Episodenroman „Szenen aus dem Pariser (Künstler-)leben“. Verblüffend biedere und belanglose Momente gab es in Menge.
„La Bohème“ in einem nach Pleiteniedergang zur autonomen Künstlerresidenz gemachten Kaufhaus der Gegenwart – warum nicht? Wenn Mimì auf einer Schmuddelmatratze stirbt, kommen am Ende die Abrissraupen. Stefan Heinrichs’ Bühne setzt unter dem Glasdach des entleerten Konsumtempels auf konkrete Möbel und Rolltreppen, aber auch viele nachhaltige Projektionen. Passend werden aus Pariser Arbeiterinnen pseudolaszive Liebesarbeiterinnen in Prada für Arme. Constanze Schusters Kostüme pegeln zwischen einem rosa Discount-Strickhäubchen für Mimì und Herrensakkos. Das Produktionsteam stellt sich Künstler wie städtische Angestellte beim Abendausgang vor. Dieses versetzte „La Bohème“ – eigentlich sinnfällig – in die postpandemische Rezession und Ideenverdrossenheit. Dabei liegen die realen Themenangebote für das sich auf’s Gefällige verlegende Konzept derzeit auf der Straße: Einsamkeit als Zivilisationsphänomen, Kulturkürzungen und-und-und. Schade.
Méndez hat gewiss Substanzielles beizutragen zum Emotionenspiegel Puccinis, der die Frauenfiguren seiner Opern weitaus humaner behandelte als die Frauen seines physischen Lebens. Einerseits ergreift Mimì bei Méndez Eigeninitiative, um sich den sympathischen Dichter Rodolfo zu angeln. Später führen die mit allen Mitteln in den Starlet-Himmel strebende Musetta und Marcello (im hübschen roten Anzug) einen leidenschaftlichen und echt bipolaren Rosenkrieg. Ihr fieses Schimpfgewitter beenden sie nicht durch Türenschlagen und echte Schläge, sondern mit einem vor Begehren berstenden Kuss.
Zugegeben: Gegen diese Musikleistung hätten es auch die intelligentesten und sensibelsten Regiegeister schwer, sofern sie nicht mit dem Münsteraner Orchestergraben fraternisieren. GMD Golo Berg lässt die Fortissimo-Pranke an nur ganz wenigen Stellen zu. Die mittleren Dynamikbereiche sind vom Sinfonieorchester Münster weicher Samt und legen dem Musiktheater-Ensemble den idealen Klangteppich. Berg separiert die Instrumentengruppen und umhüllt deren Transparenz mit Seide. Für die Sänger bedeutete das: Kein Spitzenton-Exhibitionismus, aber auch viel Eigenverantwortung in Sachen vokale Achtsamkeit.
Das überzeugte nicht nur an einer meist vernachlässigten Position: Oscar Marin Reyes befördert den zu oft als Knallcharge denunzierten Staatsrat Alcindoro um einige Interessengrade nach oben. Als Beau, Tütchen-Schlepper und eleganter Apportier-Dackel Musettas lebt Alcindoro seine devote Seite aus. Robyn Allegra Parton wertet Musetta mit Wachheit, handfest und mit Sensibilität zur von innen leuchtenden Figur auf. Stimmschön und etwas neutral bleiben Johan Hyunbong Choi als Marcello und Kihoon Yoo als Colline. Beide wirken wie Zivilisationsnomaden ohne innere Heimat. Gregor Dalal verkörpert Schaunard an der Schnittstelle von Charlie Chaplin und Grand-Guignol-Patron, setzt damit eine ausdrucksstarke Komödienmarke.
In diesem Ambiente dominieren Rodolfo und Mimì sogar noch einen Kick mehr als in anderen „Bohème“-Produktionen. Das liegt vor allem an der herzlichen und auch aus der Stimme leuchtenden Integrität von Marlena Devoe, die von der Regie noch besser genutzt hätte werden können. Sie gibt mit hellem Melos eine in klaren Höhen pulsierende Mimì. Garrie Davislim gewährt ihr als Rodolfo in der „Händchen“-Arie und allen anderen Soli in kollegialer Zuvorkommenheit einen idealen Debüt-Kick. Beide sind absolut konform mit Puccini, weil dieser den Schwerpunkt auf die emotionalen Wechsel- und Unglücksfälle fokussierte. Durch sängerische und orchestrale Delikatesse wird das allerdings mehr als wett. Letztlich also doch eine Glücksgefühl-Premiere durch den Belcanto-Bonus vom Hauptpaar und durch die fulminante Orchesterleistung.
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