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PLEASURE | Emanuel Jessel als Nathan und Robin Grunwald als Matthew. Foto: Lutz Edelhoff.
PLEASURE | Emanuel Jessel als Nathan und Robin Grunwald als Matthew. Foto: Lutz Edelhoff.
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Tod und Party-Kuscheln – Mark Simpsons schwule Club-Oper „Pleasure“ in Erfurt

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Mark Simpsons Auftragsoper für die Opera North, Aldeburgh Music und the Royal Opera House London (2016) erlebt im Studio des Theaters Erfurt ihre kontinentale Erstaufführung. Bei der interaktiven Produktion wird das Publikum zu Gästen des GLBTIQ-Clubs „Pleasure“. Katja Bildt, Robin Grunwald, Emanuel Jessel und Kammersänger Máté Sólyom-Nagy als Dragqueen Anna Fewmore liefern ein bitteres Drama nach dem altgriechischen Hephaistos-Mythos. Ein prickelnder wie emotionaler Beitrag zur „griechischen Spielzeit“ am Theater Erfurt.

Das Publikum betritt den Theaterraum diesmal durch die Männertoilette. Diese gehört zur künstlerischen Ausstattung Mila van Daags. Denn das ganze Studio des Theaters Erfurt ist Bühne bei der kontinentalen Erstaufführung von Mark Simpsons Oper „Pleasure“. An der Bar gibt es für alle Karteninhaber ein Freigetränk. Das Publikum wird selbst zu einem Teil der Party People und Schönen der Nacht. Die kleine Orchester-Besetzung aus dem Philharmonischen Orchester Erfurt sitzt in einer Gitterzelle. Stefano Cascioli hat am Pult mit Brio und Pathos alles im Griff. Bei ausverkauften Vorstellungen sind über hundert Menschen auf der Opern-Tanzfläche. Sie bleiben auch deshalb in Bewegung, weil es viel weniger Sitzgelegenheiten gibt als Zuschauer. Diese weichen den zwischen ihnen agierenden Sängerdarstellern natürlich aus und suchen Positionen, wo sie gut sehen.

Ort der deutschen Erstaufführung von Mark Simpsons Oper „Pleasure“ ist nicht Berlin, nicht Köln, nicht München – also keine der Party-Hochburgen, in deren queeren Clubs alle Freigeistigen und Freizügigen willkommen sind. Sondern die thüringische Landeshauptstadt Erfurt. Bekannt ist diese eher für ihren Dom als für elektrisierendes Nachtleben. Aber gemeinsam mit der Community bildet das Theater Erfurt für die Laufzeit von „Pleasure“ eine feine Allianz.

Ein Opernfest der besonderen Art also, auch für die Hauptdarsteller. Wenn der schwule Mat (Robin Grunwald) dem nicht-schwulen Club-Debütanten Nathan (Emanuel Jessel) mit den Fingern über den nackten Unterarm streicht, knistert es. Auch nach der Premiere wird jeder Abend anders. Denn wegen der Menschen im Raum bahnen sich die beiden immer andere Wegen zueinander hin – oder voneinander weg. Während auf einer Opern-Guckkastenbühne jeder Gang und die meisten Gesten bis ins Detail geregelt sind, wird die theatrale Cruising-Situation in „Pleasure“ zur spieltechnischen Herausforderung. Solche Situationen finden auch Theatergänger prickelnd, die nichts mit Nightlife und Party zu tun haben. Denn selten erlebt man Opernsänger derart hautnah und in praller Aktion.

Der Regisseur Cristiano Fioravanti begeistert sich für solche ungewöhnlichen Spielräume. „Pleasure“ ist seine zweite interaktive Operninszenierung für das Studio Erfurt. Vor zwei Jahren hatte er in Philip Glass’ Kafka-Vertonung „In der Strafkolonie“ das Publikum zu Gefangenen und Augenzeugen eines qualvoll langen Hinrichtungsexperimentes gemacht. Auch im Club „Pleasure“ gibt es am Ende einen Toten. Fioravanti, das merkt man, vertraute seinen Darstellern. Wichtig ist es für diese in Greifweite zum Publikum, nicht zu übertreiben.

„So etwas geht nur in Riesenstädten.“ ist so ein häufig zu hörendes Ausweichmanöver. Montavon beweist das Gegenteil.

Schon vor der Pandemie wurde Opernintendant Guy Montavon durch den Verlag Boosey und Hawkes auf die erste und bisher einzige Oper Mark Simpsons aufmerksam, zu welcher der jetzt 34-jährige durch eigene Streifzüge im schwulen Nachleben Liverpools inspiriert wurde. Für den französischen Schweizer Montavon sind Opernentdeckungen aus Vergangenheit und Gegenwart seit Jahren ein spannender Berufssport. Er hat in der Nachtleben-Peripherie Erfurt Mut zu einem Stück, bei dem andere Intendanzen kneifen: „So etwas geht nur in Riesenstädten.“ ist so ein häufig zu hörendes Ausweichmanöver. Montavon beweist das Gegenteil.

Viele sind nicht nur von der menschlichen Wende der Oper am Ende, sondern auch von der Intimität und Erotik einiger Szenen berührt. Was am englischsprachigen Textbuch und den deutschen Surtitles liegt: Melanie Challenger setzte in ihrer Prosa auf klare Pointen und lakonische Kürze. Wenn es in der zweiten Hälfte um viel Leid und sexuelles Begehren geht, findet sie Worte von aufwühlender Sinnlichkeit – und Trauer. Der zu den Erfurter Schlussproben anwesende Simpson gehört derzeit zu den umworbenen Jung-Komponisten. Sein Violinkonzert gelangt im März in Amsterdam und Köln zur Aufführung.

Auch „Pleasure“ zeichnet sich durch ungewöhnlich starke Erfindungskraft aus. Nach mehrfacher Verschiebung findet die Premiere in einer Spielzeit mit ausschließlich griechischen Sujets statt. Natürlich kann man mannmännliches Werben wie in der Vergangenheit blumig als „griechische Liebe“ bezeichnen. Wichtiger aber ist die Ableitung der Opernhandlung vom altgriechischen Mythos des Schmiede- und Waffengottes Hephaistos, den seine Mutter Hera wegen einer Verkrüppelung am Fuß ablehnte und deshalb aus dem Olymp in die Tiefe warf: Seit Jahren ist die Toilettenfrau Val die Seelentrösterin all jener ungeküsster Prinzen, deren Lust im „Pleasure“ weder Erfüllung noch Ewigkeit findet. Val trotzt im Discolicht und Halbdunkel ihrem körperlichen Verblühen, das bei Tageslicht unübersehbar ist. In dieser Partynacht greifen die Schatten der bösen Vergangenheit nach ihr. Val begegnet zufällig ihrem eigenen Sohn Nathan. Bei Nathan brechen die Dämme: Erst rührt ihm der promiske Mat an Haut und Seele, später muss er in Val seine seit der Kindheit vermisste Mutter erkennen. Nathan stammt aus der toxischen Ehe eines notorisch gewalttätigen Preisboxers und seiner unreifen Geliebten, kam zur Erziehung in fremde Hände. Auf der Männertoilette tut Nathan sich Schreckliches an...

Katja Bildt, der Sängerin der Val, und Máté Sólyom-Nagy als Dragqueen Anna Fewmore springt am Ende das blanke Entsetzen aus den Augen – und der Stimme. Bildt bewegt sich mit resignativer und deshalb bewegender Einfachheit, Sólyom-Nagy mit sehniger Grandezza. Am Ende wird es nicht richtig dunkel, die Club-Illusion trägt auch über das Verklingen der Musik.

Diese ist ganz große Klasse. Simpson setzt bizarre Streichersoli und bringt Klarinetten-Melodien zum lasziven Leuchten. Die Orchester-Combo generiert Techno-, Pop- und Rockbeets mit imponierend fix wechselnder Band- und Farbbreite. Die Songs von Anna Fewmore geraten zu Einpeitschern, die Stimmen von Mat und Nathan schwimmen im vibrierenden Orchestersound. Das kommt schon sehr stark in die musikalische Nähe zu „Greek“ von Mark-Anthony Turnage, der bei der ersten Münchner Biennale 1988 mit der in die britische Unterschicht der Ära Thatcher verlegten Oedipus-Sage einen Klassiker des jüngeren Opernschaffens landete. Mark Simpson ist ein neues Paradebeispiel dafür, was für tolle musikalisches Kicks aus Liverpool in die Klassikszene knallen.

  • Insgesamt gibt es am Theater Erfurt fünf „Pleasure“-Clubabende: Am 21., 27. Januar – 4. Februar – 10., 30. März 2023 .

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