Als umgekehrter Orfeus ist er vom Tod ins Leben zurückgekehrt. Aber dort wissen Witwe und Mutter nichts Rechtes mit ihm anzufangen. Diesen Schwebezustand hat Hèctor Parra in seiner Biennale-Oper „Das geopferte Leben“ in den Zwischenräumen von Alter und Neuer Musik angesiedelt. Ein weiblicher Tod hüllt ihn in postbarocke Koloraturen.
Da hat es sich die Mutter gerade so schön in ihrem Schmerz eingerichtet, während die Schwiegertochter nach vorne schaut und sich die neu gekaufte rote Jacke übers Trauergewand streift. Da kommt der untote Sohn, respektive Mann eher ungelegen. Das Angebot der mit Geigenbogen bewaffneten Sensenfrau, ihn für überzeugend formulierte Liebesbekundungen dauerhaft ins Leben zurückzulassen, nehmen die Damen ohne größeren Enthusiasmus an. Bis die Mutter ihrem Sohn schließlich den finalen Gewissensbiss verpasst und sich statt seiner aufs Totenbett legt.
Regisseurin Vera Nemirova lässt sich von den wenigen Gelegenheiten zum Augenzwinkern, die das größtenteils poetisch-bedeutungsschwere Libretto von Marie NDiaye (ins Deutsche übertragen) bietet, gerne inspirieren. Auf der Bühne des Carl-Orff-Saales im Gasteig, der von einer in permanenter Drehbewegung befindlichen, labyrinthisch verschlungenen Schleuse beherrscht wird, gelingen ihr einige absurd-schöne Momente. So erinnert sich das einstige Brautpaar bei der Beziehungsschilderung durch die Mutter an eine trostlos mechanistisch absolvierte Hochzeitsnacht.
Eine Barockoper fürs 21. Jahrhundert
Sollte Parra die entsprechend rhythmisierte Passage tatsächlich als Beischlafmusik gemeint haben, so ist es die einzige, in der er dem in die Gegenwart gewendeten Orfeus-Mythos so etwas wie musikalischen Humor angedeihen lässt. Ansonsten versucht er, die Affektsprache der von ihm sehr geschätzten Barockoper ins 21. Jahrhundert herüberzuholen und mit zeitgenössischer Klangenergie aufzuladen. Im Orchestergraben helfen ihm dabei – unter Peter Tillings Leitung bravourös aufspielend – das Freiburger Barockorchester und das Ensemble Recherche.
Wie er die beiden in ihrer Stimmung um einen Halbton verschobenen Klangkörper ineinander verschränkt, statt sie jeweils verschiedenen Ausdruckssphären zuzuordnen, wie er einen irisierenden, historisches Niemandsland betretenden Klang kreiert, ohne Stilkopien abzuliefern, das ist durchaus reizvoll zu hören. Gleiches gilt für die weiblichen Gesangsparts die sich immer wieder effektvoll in die Höhe schrauben dürfen: Frau Mutter hochdramatisch (Sigrun Schell mit robuster Durchschlagskraft), Frau Tod koloraturgesättigt (Lini Gong mit aberwitziger Präzision), Frau Gattin lyrisch (Sally Wilson mit ambivalentem Trauerflor). Letztere darf nach dem Opfertod der Schwiegermutter gar ein Bach’sches „Es ist vollbracht“ anstimmen. Vergleichsweise weniger exponiert und dankbar ist die Rolle des Mannes (Bariton Alejandro Lárraga Schleske), dessen erster, schattenhafter Auftritt außerdem musikdramatisch ziemlich verschenkt ist.
Die sehr durchdachte Machart und die aus dem Graben mitunter herauspeitschenden Schicksalsschläge können indes nicht verhindern, dass der eineinhalbstündige Abend mehr und mehr ins prätentiös Gefühlige umzuschlagen droht. Segensreich wirken dabei einige nur mit Theorbe und Barockharfe begleitete Momente. Die durchaus sympathische Verbeugung vor der Anmut und Tiefe frühbarocker Opernästhetik kommt dabei allerdings dem Eingeständnis gefährlich nahe, es im Grunde heute nicht besser zu können als damals.
Glanert and the Navigators
Ein anderes Gedankenexperiment zur Endlichkeit des Lebens hat Anfang der 1950er Jahre Elias Canetti in seinem Drama „Die Befristeten“ durchgespielt. Er bringt eine Gesellschaft auf die Theaterbühne, in der jeder seine Lebenserwartung im Namen und damit den Zeitpunkt seines Todes mit sich herumträgt. Regisseurin Nicola Hümpel und ihre Schauspieltruppe „Nico and the Navigators“ schließen im Cuvilliéstheater das philosophisch anregende, aber wenig theatertaugliche Stück mit dem Gesundheits- und Selbstoptimierungswahn unserer Zeit und den Fortschritten der Gentechnik kurz, mittels derer Krankheitsrisiken präzise bestimmt werden können.
Leider bewegen sich die meisten diesbezüglichen Textergänzungen auf mittlerem Kabarettniveau, während auf der anderen Seite der existenzielle Tiefgang des Originals bemüht wirkt. Daran kann auch Detlev Glanerts Musik nichts ändern. Dass sie in enger Zusammenarbeit mit den Darstellern und unter Einbeziehung improvisierter Elemente erst während des Probenprozesses entstand, merkt man ihr nur an wenigen Stellen an: wenn bei den kompetenten Tanzeinlagen Yui Kawaguchis, gelegentlichen choreografierten Elementen und exakten Wort-Klang-Korrespondenzen die Synchronisation mit der Bühne zwingend erscheint. Die Gattung Melodram scheint dort auf, wo die Musik so weit in den Vordergrund rückt, dass die Headsets der Schauspieler entsprechend lauter ausgesteuert werden müssen.
So aufmerksam das wunderbare Ensemble piano possibile unter Heinz Friedl das auch spielt, Glanerts werkdienliche, den Text routiniert aus verschiedenen Stilebenen heraus umspülende Schauspielmusik kann den Theaterabend nicht von seinem unentschieden zwischen Ambition und Klamauk schwankenden Zustand auf eine andere, echt musiktheatrale Ebene heben. Womöglich wäre eine Dokumentation des Arbeitsprozesses interessanter anzusehen und anzuhören gewesen.
Eine Gesamtbilanz der 14. Musiktheater-Biennale erscheint in der Juni-Ausgabe der nmz.