Schon der erste Ort in der Eröffnungspremiere des Staatstheaters Hannover macht unmissverständlich klar, wie der Regisseur Dietrich Hilsdorf Antonín Dvořáks „Rusalka“ sieht, die tschechische Variante des „Undinen“-Themas. Es sind nicht die Tiefen des Wassers, in denen die Nixe Rusalka mit ihren Schwestern lebt, sondern es ist eine Leichenhalle. Da wird gearbeitet, da werden Gesichtsmasken abgenommen und Embryos in Gläsern verstaut.
Hier liegen auch Rusalka und ihre Kolleginnen, die den Tod nicht akzeptieren. Immer wieder stehen die mit weißen Totenhemdchen Bekleideten (Kostüme: Renate Schmitzer) auf und treiben allerlei Schabernack. Am wenigsten akzeptiert es Rusalka, die es zu den Menschen zieht, sie hat sich in den badenden Prinzen verliebt und will nun ein Mensch werden, beziehungsweise wieder richtig leben.
Damit führt der Regisseur das Märchen von Hans Christian Andersen (und anderen Quellen wie de la Mottes Fouqués Erzählung „Undine“ und Gerhard Hauptmanns Märchendrama „Die versunkene Glocke) mit der sicheren Hand, die man von ihm gewohnt ist, in eine realistische Dramatik anstatt die zutiefst symbolistische Welt nachzubilden, die auch im Untertitel „Lyrisches Märchen“ eher suggeriert wird.
Durchgehend spannend und meisterhaft schafft es der gut dreistündige Abend, zentrale Begriffe des Symbolismus – die Oper wurde 1901 in Prag uraufgeführt – wie Geheimnis, Schönheit, Seele in ein anrührendes Liebesdrama zu überführen: Rusalka sehnt sich nach einer Liebe, die nicht Wirklichkeit werden kann. Denn ihre Sehnsucht nach der Menschwerdung, die die zynische Hexe Jezibaba ihr mit der Verwandlung ihres Fischschwanzes in Beine ermöglicht, muss sie teuer bezahlen: sie verliert ihre Stimme. Damit kann der Prinz, der sie geheiratet hat, nicht umgehen und verliebt sich in eine andere Frau. Zurück ins Wasser, zurück zu den Toten kann sie nicht mehr und wandelt nun als das personifizierte schlechte Gewissen des Prinzen wie ein „todbringendes Irrlicht“ auf der Erde: ihr finaler Kuss tötet den Prinzen.
Für diese überzeugende Sicht, die auch den gesellschaftspolitischen Aspekt der Außerseiterin deutlich macht, hilft Hilsdorf die großartige Musik Dvořáks, die zu Recht als die bis dahin größte tschechische Oper angesehen werden kann (jedenfalls vor Leoš Janačék): mit ihren Leitmotiven an Wagner geschult, mit ihrer Verwurzelung im tschechischen Volkslied, mit ihrer berückend sensiblen Gestaltung einer charakteristischen Aura wie der erste Auftritt der Rusalka (über zarter Bassgrundierung gibt es einen Streicherschleier, zu dem sich terz- und sextgesättigte Melodien zweier Klarinetten gesellen). Gleichzeitig kann Dvořák kraftvoll und geradezu deftig zulangen, wie es das Niedersächsische Staatsorchester unter der differenziert flexiblen und farbenreichen Leitung von Anja Bihlmeier zeigte. Und dem Regisseur hilft die für diese Sicht ungemein geschickt gebaute Bühne (Dieter Richter): die Wendeltreppe in der Leichenhalle führt nach oben in den Palast des Prinzen; damit kann gespielt werden und teilweise sind beide Räume zu sehen.
In der bejubelten Premiere setzten die Protagonisten starke Zeichen: Rebecca Davis mit leuchtendem, ebenso lyrischen wie dramatischem Sopran sang die Titelpartie an der Seite, während die erkältete Sara Eterno nur spielte, ihr war wirklich die Stimme weggeblieben. Wunderbar Tobias Schabel als Wassermann, Andrea Shin als Prinz und etwas unglücklich Brigitte Hahn als fremde Fürstin. Sie hatte so gar keine Verführungskräfte, sondern wirkte eher als des Prinzen Mama. Khatuna Mikaberidze als Hexe passte sich in das ein, was in dieser Inszenierung so „realistisch“ war: keine Hexe, sondern eine machtbesessene dominante Frau. „Rusalka“, in Deutschland noch immer eine Rarität, bewies einmal mehr ihren Wert im großen Opernrepertoire.