1820 war – dies hat sich als wissenschaftlicher Konsens herausgeschält – für den damals 23jährigen Liedbegleiter und Komponisten Franz Schubert aus mancherlei Gründen, sogenannten „privaten“ und beruflichen, ein „Jahr der Krise“. Anders als andere Lebensabschnitte des Tonkünstlers ist es schlecht dokumentiert. Dies wiederum könnte damit zusammenhängen, dass der junge Tonkünstler einen Teil seiner Unterlagen vernichtete, nachdem er zusammen mit seinem Freund Johann Senn von wegen des Verdachts revolutionärer Umtriebe verhaftet wurde.
Anders als Senn, der zwei Jahre lang in Gewahrsam gehalten und von der metternichschen Polizei gefoltert, anschließend verbannt wurde, kam Schubert zwar rasch wieder frei, (ob, wie üblich, a bißerl geprügelt oder nicht, weiß die Nachwelt nicht). Die Polizeiaktion mag jedenfalls zumindest eine gewisse einschüchternde Wirkung nicht verfehlt, Gefühle der Macht- und Aussichtslosigkeit verstärkt haben.
Aus diesem Jahr 1820 stammt neben dem im Kärtnertortheater uraufgeführten Singspiel „Die Zwillingsbrüder“ und der ins Theater an der Wien gelangten „Zauberharfe“ u.a. auch ein Oratorien-Projekt. Ihm liegt ein pietistisch-quietistischer Text des Hallenser Theologen August Niemeyer von 1778 zugrunde. Dies ist zumindest ein wenig merkwürdig. Warum griff Schubert im katholischen Wien zu einem protestantischen Text und zudem zu einem mehr als vier Jahrzehnte alten? Darüber wurde mancherlei Spekulation angestellt, doch es war bis heute ebenso wenig zu ermitteln wie der Zweck, für den diese Arbeit konzipierte wurde, ob es einen Auftrag für sie gab und warum sie abgebrochen wurde. Klar ist nur, an welchem Punkt das Projekt scheiterte: beim Wörtchen „und“ vor der Auferweckungs-Szene.
Der Mangel an Quellen gab der Musikwissenschaft Anlass zu abenteuerlichen Spekulationen, die in der These gipfelt, dass sich da „im Gewande der obsoleten Form einer Azione sacra zu einer Zukunftsmusik“ verbunden habe, was dann drei Jahrzehnte mit Liszt und Wagner wirkungsmächtig wurde. Der nahe liegende Gedanke, dass Schubert in jenem ominösen Jahr kurz nach Fixierung und Durchsetzung der berüchtigten Karlsbader Beschlüsse aus mancherlei äußeren und inneren Gründen ein wenig „aus der Spur geraten“ und, die Krise dann meisternd, auf neue künstlerische Wege geraten sein könnte (oder einfach aus pragmatischen Gründen die Weiterarbeit „auf später“ verschoben haben könnte, wie es vielseitig Interessierte ja häufig tun), wird von der akademischen Musikforschung nicht ernsthaft in Betracht gezogen. Warum eigentlich nicht?
Es finden sich bemerkenswert „schöne“ und musikhistorisch interessante Stellen in der Partitur zu Franz Schuberts Oratorien-Fragment, das unter der moderaten Leitung von Michael Boder ohne alle Neigung zu exzessiven Tempi oder exaltierten dynamischen Kontrasten von den Wiener Symphonikern solide ausgeführt wird. Der Torso stützt sich auf ein pietistisch-quietistisches Libretto zur Auferstehung des Lazarus – und das zog Lehren aus einem der vom Johannes-Evangelium berichteten Wunder des Religionsgründers für den Auferstehungsglauben in einer Zeit, als naive Gläubigkeit rationalistischen Anfechtungen ausgesetzt war. Claus Guth und sein Ausstatter Christian Schmidt gesellten dem gescheiterten Musikwerk die Einsicht in ein Flughafen-Terminal zu, einen „transistorischen Ort“. Der allerdings erschien von allen Zeichen des Konkreten gereinigt, ganz in gedecktem Weiß: Keine bunte Werbung, keine die Fluchtwege verstellenden Verkaufsflächen, obwohl dies doch längst das Wichtigste in den ja keineswegs aus christlicher Nächstenliebe betriebenen Massentransportumschlageplätzen ist. Dass noch nicht einmal Anzeigetafeln für die Flüge sind zu sehen sind, mag das alte surrealistische Motiv der auf die zeitlose Ewigkeit verweisenden Uhr ohne Zeiger aufgreifen.
Wie bei fast allen Inszenierungen von Claus Guth – gleich, ob es sich um Monteverdi, Mozart oder eben jetzt um eine Musik-Montage handelt – dominiert ein blankgewienertes Treppenhaus das Bild – seitwärts davon ein paar Abfertigungsschalter bzw. eine Sitzgruppe. Die Treppe (plausibler an dieser Stelle wären die andernorts auf der Opernbühne so beliebten Rolltreppen) führt nicht nur im bautechnischen Sinn auf eine höhere Ebene – sie steht für die Betreiber der Wiener Produktion „als Symbol für den Weg von einer Welt in eine andere“. Wie die Stufen einer Pyramide oder „das Bild von der Himmelsleiter“. Inspiriert zu den optischen Assoziationen zum sterbenden Lazarus wurden Guth und Schmidt von einer Episode bei einem Japan-Gastspiel, bei dem sie während des Wartens auf den Shinkansen-Express einen Geschäftsmann mit Mantel und Aktenkoffer zu Boden gehen sahen und es „ewig lang“ gedauert habe, bis die Rettung kam. So verhält es sich nun auch bei den „himmlischen Längen“ der intensiv antidramatischen Musik Schuberts. Die Betriebsamkeit der geräuschvoll treppauf- und ab durcheinander trudelnden Menge erstarrt. Kurt Streit bekennt mit leicht angegriffenem Tenor seine bedrohliche Schwäche und legt sich – wie ein ihm zugeselltes Double – zum Sterben. Martha und Maria, die Schwestern des moribunden Lazarus, stehen bei und klagen. Rosen werden auf den Weg gestreut: So gibt es doch auch schöne Fermente im kalten Schrecken der Abflughalle ins Jenseits – denn auf dieses und die von dort aus dann zu erwartende Auferstehung des Fleisches am Jüngsten Tag wurde die im Original des Evangeliums diesseits-irdische Wiedererweckungs-Geschichte vom Dichter der „azione sacra“ hingebügelt.
Wie schwierig das mit dem Trost für Sterbende ist, mit dem professionell verabreichten zumal, setzt Pastor Nathanael – Ladislav Elgr – pietät- und salbungsvoll ins Bild. Stephanie Houtzeel bestreitet die Partie der beherrschter wirkenden Martha mit einer in der Höhe beklagenswert ungenauen Intonation, Annette Dasch, die impulsivere der beiden Schwestern, singt mit ansprechender Intensität, aber auch einer gewissen Schwerfälligkeit. Die biedermeierliche Schubert-Musik mit ihren nazarenischen Zügen stellt ihrer Stimme so wenig Flügel bereit wie der Text, der über den „bleichen Harm auf deinen Wangen“ räsoniert. Als stärkste Stimme erweist sich die von Florian Boesch, die laut die Glaubenszweifel bekennt, die sich in Schuberts Œuvre vom frühen „Wanderer“ an bis zur späten „Winterreise“ finden. Die Inszenierung fängt das Hadern übers „nicht mehr beten können“ in einer Beerdigungszeremonie als religiösem Gemeinschaftserlebnis auf. Die Sinn- und Gottsucherei hat, wie in Teilen der Medien und der Gesellschaft, auch in den Theatern Konjunktur.
Konjunkturgerecht haben Claus Guth und sein Team die theologisch verbogene Lazarus-Geschichte mit erschütternder Banalität nacherzählt. Die tieferen Gründe für die Bebilderung werden nicht plausibel (es wäre sogar nachgerade klüger, eine neue Propaganda für Auferstehungsideen nicht mit konkreten Bildern zu verknüpfen und die uralten Modelle des Bilderverbots pfiffig zu reaktivieren). Das ändert sich auch im zweiten Teil nicht wesentlich, in dem zum halb vollendeten zweiten Lazarus-Akt weitere Gesangs-Stücke von Schubert gesellt wurden und von Charles Ives, „The Unanswered Question“ sowie ein Stück aus „Three Places in New England“ dazwischengeschaltet wurden. Zwar wirkte die Trauerfeier-Szene etwas belebter als die Tristesse der Abflughalle und der Einzug einer Koffer-Karawane fast slapstickhaft – aber es lief schließlich darauf hinaus, dass nach dem keineswegs auf eine frohe Botschaft vom ewigen Leben ausgerichteten, der „Winterreise“ entnommenen „Wegweiser“ das Sanctus aus Schuberts später Es-Dur-Messe eine Rühr-Szene untermalte: Ein Knabe, anmutend wie der junge Lazarus, reicht dem vom Totenbett sich Erhebenden die Bordkarte zum Flug. Die Zuschauer dürfen raten, wohin. Ich würde darauf tippen, dass Guths Reise in die alten Bundesländer der Gläubigkeit geht. Die Reiseveranstalter stylen sich modern bei dieser Seelenfängerei.
Der Regisseur Guth ist ein eher auf dem Schleichweg als durch offensive künstlerische Leistungen vorangekommener „Nachrücker“ der Regie-Pioniere, die seit den 70er Jahren das mitteleuropäische Musiktheater zu seinem Vorteil verändert haben. Dass ihm die Gnade später Geburt zuteilwurde, müsste freilich noch lange nicht bedeuten, dass er sich dergestalt an einer neuen inneren Mission zugunsten von christlichem Glauben beteiligt, wie er es allem Augenschein nach mit seinem „Lazarus“-Projekt tat. Der Fragment-Charakter des zugrunde liegenden musikalischen Materials hätten weit plausibler zu einer Produktion geführt, die nicht mit einem mutwillig eingefügten Sanctus („Hosanna in excelsis, benedictus qui venit in nomine Domini“) die Glaubenszweifel zu übertönen sucht, sondern es bei den Zweifeln belässt. Zumindest bei einem „offenen“ Schluss. Welch einen Unterschied markiert diese glatte Realisation zu den Abarbeitungen an geistlichen Werken, die der zu früh verstorbene Herbert Wernicke am Ende des letzten Jahrhunderts präsentierte! Und welch ein Jammer, dass Christoph Marthaler ausgebrannt ist.