Das Ende wird vorausgenommen: in der Inszenierung von Michael Talke am Theater Bremen fällt der (Anti-)Held Tom Rakewell in der Irrenanstalt tot um, erst dann rollt das Geschehen an, was dann mit derselben Szene endet. Diese Kreisbewegung charakterisiert bestens Talkes Annäherung an „The Rakes Progress“ von Igor Strawinsky, das 1951 in Venedig unter der Leitung des Komponisten uraufgeführt wurde.
Für die locker gefügte gesellschaftskritische Bilderfolge vom „Leben eines Wüstlings“ nach den Stichen des englischen Karikaturisten William Hogarth (1735) verwendet der Komponist Traditionsmodelle aus der Geschichte der Oper, Mozartsche Arien, Gassenhauer, barocke Tänze und vieles mehr. Mit Cembalorezitativen, Arien und Ensembles ist Strawinskys erste und einzige Oper eine regelrechte Nummernoper.
Die Moral dieser fast brechtischen Parabel: Wer sich wie Tom Rakewell den erzwungenen Zufällen des Glücks überlässt, ist schließlich der Betrogene. Das zaubert Talke in einer überragenden Fülle von Ideen, die purer und lustvoller Theaterlust ebenso gerecht werden wie sie die Trauer über ein solches Schicksal als zeitkritische Metapher der fünfziger Jahre in ihrer verrückt machenden Glückssuche zeigen. Die Kunst der Regie ist äußerst gefragt in einem Stück, das gar keine logischen Zusammenhänge oder aber Entwicklungen zeigt. Talke setzt mit großem Geschmack und Geschick und vollkommen ohne überdrehte Interpretation die Szenen collageartig aneinander, oft auch in Zeitlupen- oder Standbildern (dazu passt dann auch das einfache, wohltuend ohne Videos auskommende Bühnenbild von Barbara Steiner). Und dazu passt dann die moralische Warnung am Ende, die erst – eine tolle Idee – nach dem ersten Beifall kommt.
Da ist zuerst einmal der fantastisch agierende Chor, dessen Klamotten (Kostüme: Regine Standfuss) einfach die einer verkommenen Konsumgesellschaft sind. Dann die Protagonisten: Hyojong Kim als Tom ist weniger ein rücksichtsloser Wüstling als ein sich selbst ausgelieferter einsamer Mann mit einer unbändigen Sehnsucht nach Werten wie Geld und Vergnügen. Sängerisch überzeugt er. Und fein ausgespielt ist auch seine Abhängigkeit von Nick Shadow, dem Teufel, sozusagen dem Zeremonienmeister der Story: hier hat Christoph Heinrich als pechschwarzer Mann (das allerdings ist geschmacklos und daneben) alle Fäden in der Hand – wunderbar ist die Lichtregie bei seinen auch sängerisch brillanten Auftritten –, bis er in einer verzaubernden geradezu barocken Theaterszene in den Nebeln der Unterwelt versinkt, nicht ohne vorher Tom in den Wahnsinn geschickt zu haben: die Szene erinnert stark an die Friedhofsszene aus Mozarts Don Giovanni.
Und Marysol Schalit als die Tom liebende Unschuld vom Lande (Trulove heißt sie mit Nachnamen): das kann man in der Schlichtheit mit unglaublichen (Mozart‘schen) Pianotönen kaum besser machen. Der mitreißende Akzent gegen dieses Frauenbild ist Nathalie Mittelbach als die auf Jahrmärkten auftretende Türken-Baba im Outfit eines Affen, Toms unentwegt quasselnde und wütend um sich hauende Ehehälfte, die er schließlich genervt umbringt. Eine hoch gelungene Szene ist auch die Auktion, bei der Toms Besitz versteigert wird: glänzend Christian-Andreas Engelhardt. Und der spießige Vater von Anne, der seinem zukünftigen Schwiegersohn so gern eine feste Stelle in der Bank (war das einmal sicher?) verschaffen will, ist bestens dargestellt von Loren Lang, und Ulrike Mayer schuf als Bordellmutter wieder eine andere, eigene Welt. Vielleicht kann man sagen, dass der zweite Teil sowohl kompositorisch als auch inszenatorisch einige Klassen besser und spannender war.
Die musikalische Leitung hatte Hartmut Keil, der die Bremer Philharmoniker sicher und mit viel Schwung und Ironie durch die zitierte Musikgeschichte führte, so dass am Ende ein Riesenbeifall stand.
- Die nächsten Aufführungen: 27.5., 3., 6., 10., 15., 23. und 28. Juni