Händel? Jaja, Göttingen und Halle. Doch da meldet sich auch ein stolzer Finger aus München: Intendant Peter Jonas importierte aus seiner englischen Heimat von 1993 bis 2006 diesen britischen Neuzugang zu Händels Werken so erfolgreich, dass über die frappierenden szenischen Neudeutungen und bald auch die musikalischen Reize speziell unter Ivor Boltons Leitung weit überregional gestaunt, berichtet und angereist wurde. Jetzt, nach langer Zeit ohne Händel im Staatsopernspielplan, seine Semi-Opera „Semele“ – und: tobende Begeisterung. Was war denn da los?
Tödlicher High-Life-Wahn – Händels „Semele“ wird im Münchner Prinzregententheater zum Festspielereignis
Jedenfalls keinerlei Nostalgie – eher erst mal begeistertes Staunen. Denn diese dreiaktige, 1734 nur konzertant uraufgeführte Semi-Opera auf ein englisches Libretto von William Congreve nimmt aus Londons großer, eher bürgerlicher Oratorien-Tradition den Chor mit ins musikdramatische Geschehen und bietet all den virtuosen Vokalzauber von Händels italienischen Opern. Da will die bildschön eitle Königstochter Semele nicht wie geplant den netten Athamas heiraten, sondern träumt seit langem vom liebesräuberischen Jupiter; überheblich lässt sie ihre Hochzeitsfeierlichkeiten platzen und beschwört den Gott herbei; als Adler verkleidet entführt dieser sie in einen für sie geschaffenen Palast; doch als sie Unsterblichkeit verlangt, greift die längst eifersüchtige Juno ein – am Ende verbrennt Semele an ihrem ehrgeizig überheblichen Begehren, doch aus ihrer Liebe zu Jupiter geht Dionysos hervor. Naja, hübscher Mythos, aber etwas für 2023?
Und ob … wenn ein sensibel intelligenter Regisseur wie Claus Guth mit einem erstklassigen Team und Solisten-Ensemble den Kern der Erzählung für Hier und Heute herausschält! Kennen wir das nicht: Girlie muss es hypergestylt bis 25 auf die Titelseiten maßgeblicher Magazine geschafft und/oder viele Millionen „Follower“ haben; dann kann es sich auch an die mitunter weltweit mächtigen Milliardäre ranschmeißen; es folgt eine tolle Affäre – aber das Girl will mehr … und überzieht … Gegnerinnen triumphieren … Absturz … früher Tod … Unsterblichkeit im Netz. Klingt das nicht nach „Influencer-Karriere“ und „Star-Anhängsel“ mit Klage um Millionen-Abfindung und Scheitern? Genau in diese Struktur heutiger „Girlie-Macho-Stories“ hat Guth das mit seinem Team unverkrampft, nämlich visuell beeindruckend und künstlerisch faszinierend transponiert.
In den weiten Bühnenraum des Prinzregententheaters hat Michael Levine einen strahlend weißen, neoklassizistischen Saal mit sechs hohen Flügeltüren an den Seiten, mit modernem Kronleuchter und exquisiter Wandbeleuchtung gebaut – ein in seiner gestylten Zurückhaltung perfektes „Schloss-Ambiente“ für eine heutige Jet-Set-Snobiety, dazu gedrillt an- und wegtanzende Dienerschaft mit L-O-V-E-Blumenbuchstaben, Star-Fotograf und der alles gekonnt streng arrangierenden, verführerisch blonden Hochzeitsmanagerin von Jessica Niles … für die der zunächst noble Brautvater Cadmus von Philippe Sly ein sehr eindeutiges Interesse entwickelt. Doch in diesem blitzsauberen Raum liegt eine schwarze Feder: ein Überbleibsel aus dem Ouvertürenvorspiel, in dem Semele mit ihrem bebrillten Brav-Bräutigam Athamas von Jakub Józef Orliński im halbdunklen Raum steht; auf dem durchsichtigen Zwischenvorhang schneit es wirbelig; Semele tritt aus ihrem starren Brautkleid heraus - dieses „Neben-Sich-Stehen“ spielt Brenda Rae schon überzeugend und dann schwebt ein Adler mehrfach per Video durch den Raum.
In den hellen Hochzeitssaal regnet es viele schwarze Federn, alles gerät außer Kontrolle – oder sehen wir alles durch Semeles zunehmend gestörte Wahrnehmung? Real schlägt sie in die Rückwand ein durchschreitbares Loch - hinein in eine schwarze, andere Welt; von schwarzen Figuren wird Semele in ihr jetzt schwarzes Hochzeitskleid samt schwarzem Blumenstrauß eingekleidet – allgemeine Hysterie – Blackout.
Vor einer schwarzen Zwischenwand aus Federn oder „Nature mort“ beginnen auf der Vorderbühne eine traumschöne, aber kalt in Richtung „Domina“ gestylte Juno von Emily D‘Angelo und ihre flippig eifrige, an die mit der Hochzeitsplanerin identische Helferin Iris die Planung gegen Jupiters neue Flamme – womöglich eine Wahn-Angst-Vorstellung einer zunehmend allen Realitätsbezug verlierenden Semele, denn die Zwischenwand fährt hoch und der intakte Hochzeitssaal ist schon halbschwarz zerstört. Darin wird Semele von schwarzen dienstbaren Geistern mal mit Adlerflügeln, mal mit Vogelkopf bedient und will immer mehr. Der souverän auftretende Boss Jupiter von Michael Spyres bietet ihr über seinen betörenden Gesang hinaus alle Lifestyle-Accessoires zwischen Champagner, Edelschmuck und Designermode, was die fahrig gelangweilte Semele alles ablehnt; also lässt Jupiter seine Truppe vielerlei zwischen Klassik und Modern und Rock tanzen, ja tanzt selber erst etwas schräg à la Scottish Reel, dann untergehakt mit der Truppe herrlich grotesken Can-Can – beklatschter Jubel im Publikum – nicht genug für Semele, also beschwört er ihren Bräutigam herbei – und dann zeigt der mit herrlichem Altus singende Athamas-Orliński musikalisch gut getaktet den „Coup des Abends“: eine fulminante Breakdance-Einlage auf internationalem Show-Niveau, also mit kurzem Head-Spin, Rückwärts-Überschlägen, zweimal Ein-Hand-Stand und allerlei Wirbel-Figuren, endend mit einer Flug-Rolle auf Semele zu – tobende Begeisterung im Publikum – doch nicht bei Semele, die das hin zu ihrem eigenen, schwarz bekränztem Begräbnis durchleidet – Blackout.
Finalakt: In einem schwarzen Irrgarten steigert sich Semele trotz der von Juno automatenhaft gesteuerten, eindringlich Warnungen singenden Schwester Ino von Nadezhda Karyazina in eine selbstzerstörerische Fixierung von „Jupiter unbedingt als Mensch“ – und da gelang Brenda Rae bewundernswert Anrührendes: dass fabelhafter barocker Ziergesang - lange vor allen medizinischen Erkenntnissen zu „Schizophrenie“, „Borderline“ oder „manischer Destruktion“ – vorführen kann, wie harmonische Gesangslinien zerfallen in Koloratur, virtuose Tonsprünge, fast schon „unmenschliche“ Ton-Läufe als Ausdruck eines zerfallenden, in „Wahnsinn“ verlöschenden Ichs – Felsensteins Ideal des „Singen-müssenden-Menschen“ war faszinierend zu erleben. Und so saß diese Semele als leblos erstarrtes Häuflein Mensch am Ende wieder im weißen Saal, neben ihr die arrangierte Hochzeit von Athamas mit Schwester Ino; Semele formte aus ihrer wärmenden Decke das Kind-Bündel „Dionysos“, während die High-Snobiety in Jubelchöre ausbrach, als wäre nichts gewesen.
All das dirigierte Gianluca Capuano längst nicht auf dem Vibrato-losen, straff-kantigen, unsentimentalen Niveau, dass das kleine Staatsorchester-Ensemble einst etwa unter Ivor Bolton schon konnte. Dafür klang der eingeladene „LauschWerk“-Chor exzellent. Alle Sänger wurden zu Recht enthusiastisch gefeiert. Leider nur entblödete sich eine kleine Gruppe nicht kurz zu buhen, als das von Claus Guth angeführte Bühnenteam hereinkam. Dabei ließen Michael Levines Bühnenwandlungen zusammen mit Michael Bauers dramaturgisch überzeugenden Lichtwechseln staunen; Gesine Völlms Kostüme führten allen westlichen Luxus vor; Roland Horvaths Video-Einspielungen ergänzten gut – und dann ist „Bravissimo“ angebracht: für Ramses Sigls perfekte, weil sich übergangslos einfügende Choreografie bis hin zur Personenführung – wo er sich mit der dramaturgisch überzeugenden Deutung, Figurenformung und bei Aufzählung Seiten füllenden Detail-Regie von Claus Guth traf. Musikalisches Theater aus einem Guss, ein Abend, der vorführte, wie „Festspiel“ sein kann - und warum es sein muss! Thanks to Haendel, all on stage and especially Claus Guth!
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