Georg Friedrich Händels „Tolomeo“ ist eine seltsame Opernschöpfung. In Teilen des Sujets, nicht in der Musik, wirkt sie wie ein Gegenstück zu Johann Chr. Pepuschs „The Beggar‘s Opera“, die drei Monate vorher mit ihrem Sensationserfolg bekanntlich der Barockoper den Garaus brachte. Händels Existenz war bedroht, und er versuchte, dem etwas entgegenzuhalten. Seine Strategie war wohl, auf die Vorliebe der Londoner für italienische Gesangskunst zu setzen.
So schuf er für den „Tolomeo“ zum einen eine wahrlich faszinierende Musik mit lebendigen Rezitativen, abwechslungsreichen Arien und Duetten, dazu ein glänzendes finales Quintett. Ein zweites war die schmale Besetzung mit nur fünf Sängern, die erlaubte, dem Publikum hochgeschätzte Stars zu offerieren.
Händel in Corona-Zeiten
Ähnliches müsste auch in Zeiten der Epidemie-Restriktionen gelten, dachte man in Lübeck. Als Regisseur war Anthony Pilavachi schon vor Corona eingeladen, eigentlich für Wagners „Lohengrin“. Viele waren gespannt auf ihn, der nach Berlioz‘ „La Damnation de Faust“ 2015 erklärt hatte, er werde nie wieder in Lübeck inszenieren. Nun aber folgte mit seiner 19. Inszenierung in Lübeck doch ein versöhnliches Wiedersehen (9. Oktober 2020). Das zurzeit nicht aufführbare Schwanenritter-Epos wurde auf das Folgejahr verschoben und stattdessen eben jener „Tolomeo“ reanimiert, ein kleindimensionaler, zudem aparter Ersatz.
Pilavachi hatte schon Erfahrung mit der Rarität. 1996 hatte er sie zum Händelfest in Halle in Erinnerung gebracht. Die neue Arbeit in Lübeck wird wohl aus Zeitgründen sehr ähnlich ausgefallen sein, nur Wasser gab es damals nicht. Denn wenn in Lübeck der Vorhang aufgeht, sind Wände mit schwarzen Kacheln zu erkennen, einer Badeanstalt ähnlich, dazwischen ein flaches, bühnengroßes Becken, in dem Tische stehen. Die fünf Personen erscheinen nacheinander auf der Bühne, zwei Frauen, drei Männer. Sie bleiben fortan ständig präsent, sind also zum Mitspielen verpflichtet. Es geschieht daher viel auf der Bühne, dennoch sorgfältig erdacht und in aller Regel nicht vom Hauptgeschehen ablenkend. Der erste der Auftretenden scheint dem Dirigenten die Einsätze zu geben, erst bestimmt, dann immer weicher. Seine Gestik folgt sehr genau der Ouvertüre, vermittelt Melancholie. Es ist Tolomeo, der auf Zypern gestrandete Pharao, der sich dort als Hirte Osmino nennt. Er ist, wie die anderen, weiß gekleidet und besitzt wie alle einen Koffer.
Tischlein deck dich
Jeder besetzt einen der fünf Tische. Weit gestreut und Inseln gleich stehen sie in der quadratischen Wanne und sind nur durch knöcheltiefes Wasser zu erreichen. Beim Waten entstehen Geräusche, je nach Seelenzustand plätschernd oder platschend. Ihre Stützpunkte nehmen die Fünf mit sie typisierenden Gegenständen aus dem Koffer in Besitz. Tolomeos sind Schafsfiguren und ein Hirtenstab. Seine totgeglaubte Verlobte Seleuce, auch sie Hirtin und unter dem Namen Delia auf Zypern, ziert ihren Tisch mit Floralem. Auf Araspe, dem derben Herrscher auf der Insel mit einem kleinen Waffenarsenal, folgt seine Schwester Elisa. Zu ihrem Gepäck gehören vor allem Bijouterien, Prachtkleider und Kosmetika. Als letzter erscheint Alessandro, der eine kleine ägyptische Wachtruppe aus dem Koffer zieht. Er ist Tolomeos ihm verfeindeter Bruder, den er aber zufällig aus stürmischer See rettet. „Ich suche den Tod und bring‘ einem anderen Leben“, muss sich der wegen des Verlusts von Seleuce schwermütig Gewordene eingestehen. Doch Alexander hilft ihm, er wird zum militanten Gegner Araspes.
Anthony Pilavachi inszeniert die erste Begegnung der beiden „Helden“ als Wettkampf im Aufrüsten. Das ist schon eine der köstlich gelungenen, zugleich humorvollen Pantomimen, mit denen die Regie die Aufführung würzt. Die unterschiedlichen Degen und Rüstungen, die Kriegsbemalung und die altertümlichen Monokulare, mit denen sie sich und die anderen beäugen – den Gegner argwöhnisch, die Frauen neugierig und lüstern –, sind Elemente eines auflockernden Spiels (Ausstattung: Tatjana Ivschina). Kompliziert werden die Verhältnisse, weil Araspe die schöne, doch Tolomeo innig verbundene Delia/Seleuce verfolgt, und Alexander wirbt schmachtend um Elisa. Sie aber ist von Osmino angetan, der als Hirte eigentlich nicht standesgemäß ist. Doch der weist sie ab und trauert treu um seine vermeintlich tote Seleuce. In diesem eher lustspielartigen Wirrwarr dauert es lange bis zum lieto fine.
Hanebüchene Handlung
Verwirrend das? Ja, aber es könnte eine der Versuche von Händels Librettisten Nicola Francesco Haym sein, mit dem Gefüge der Seria zu spielen. Im „Tolomeo“ gibt es keine Götter, sind die Helden wahrlich nicht heldenhaft, auch das Standeswesen durchweicht. (Grotesk komisch dabei Elisas Selbsttrost, dass sich die eigentlich nicht erlaubte Liebe zum Hirten Osmino legalisiert, als der seine königliche Abstammung preisgibt.) Schließlich gehört das sehr verkürzte und plötzliche Ende dazu und das Quintett, bei dem alle Solisten aus ihrer Rolle heraustreten und sich selbst bejubeln.
Im lesenswerten Programmheft findet sich ein Auszug aus der „Bettleroper“. John Gay lässt den Bettler sagen: „In einem Stück von dieser Sorte spielt es ohnehin keine große Rolle, wie man die Handlung einfädelt. Im Gegenteil – je hanebüchener, desto besser.“ Hat Händel oder sein Librettist das auch gelesen? Jedenfalls lässt sich leicht Komik herausanalysieren, und das hat Pilavachi zum Vorteil der Oper getan, und vor allem zum Vorteil von Andrea Stadel, die hier einmal wieder eine große Rolle hat. Als Elisa darf sie sich gleich in zwei Männer verlieben, darf sich bewundernswert An- und Auskleiden und Schminken und Schmücken, und das bei halsbrecherischen Koloraturen. Klangvoll ist ihre Stimme, dabei stilistisch sicher bei den barocken Figuren. Auch Evmorfia Metaxaki als Seleuce (alias Delia) erfreut wieder mit ihrem sensiblen Spiel und ihrem warmen, fein schattierenden Sopran. Bewundernswert auch, wie sie die barocken Aufgaben leicht und dynamisch erfüllt. Beide Damen sind Ensemblemitglieder wie auch die kraftvollen wie wendigen Bässe Johan Hyunbong Choi und Beomseok Choi, die als Araspe sich abwechseln.
Welches Haus aber hat einen Countertenor zur Verfügung? Für diese Oper müssen gleich zwei engagiert werden. Meili Li hatte die Titelrolle übernommen, gewandt und sehr sicher erfüllt er die stimmlichen Aufgaben und überzeugt vor allem in den Duetten mit seiner Seleuce. Sie waren musikalische Höhepunkte. Den Alessandro hatte Aleksander Timotić übernommen, den er als verliebten Trottel überzeugend gestaltete, auch er stimmlich groß in Form. Auch diese Rolle gehört zu den komödiantischen Partien.
Viel Beifall
Der Spielcharakter ist von Pilavachi lustvoll herausgestellt. Seiner Inszenierung fehlt ausdrücklich alles Statuarische, selbst wenn die eine oder die andere Arie auf dem Tisch gesungen wird. Dennoch erschöpft sie sich nicht darin. Sie gibt Verweise auf moderne, gern herausgestellte Befindlichkeiten. Das Unbehauste, das Unstete des Menschen symbolisieren die Koffer, die gleichzeitig das enthalten, was den Vereinzelten ausmacht. Seine Vereinsamung gehört dazu, der Egoismus, sich nur um seine eigene kleine Welt zu kümmern. Die Tische als Inseln zeugen davon, zeugen aber gleichzeitig von virtuos inszenierten AHA-Regeln.
Dennoch bleibt es eine Aufführung einer barocken Oper, nicht zuletzt durch die schon erwähnte Leistung der Sänger, die durch das sensible Orchester großartig unterstützt wird. Einige Barockinstrumente wie Theorbe oder Naturhörner und das vibratolose Spiel werden Puristen nicht ausreichend empfinden, sind es aber, wenn die Musiker eines Sinfonieorchesters dermaßen locker und beschwingt sich einsetzen. Stefan Vladar hält alles überzeugend zusammen und beweist wieder Stilsicherheit und Engagement.