Schwerin lockt wieder einmal mit dem Besonderen. Zu finden ist es in der M*Halle, in der einst die Schweriner Volkszeitung gedruckt wurde. Allein deren Aura passt wunderbar zu der jüngsten Inszenierung von Toshio Hosokawas zweiter Oper „Hanjo“ (Premiere: 29. November 2024), bei der eine Zeitungsannonce Schicksal spielt.
Toshio Hosokawas „Hanjo“ in Schwerin als ausgeklügelte Kopfgeburt
Judith Lebiez, seit der letzten Spielzeit Operndirektorin, übernahm die Regie und stellte damit ihre künstlerischen Ambitionen vor. Denn gerade für diese einaktige Kammeroper gibt es noch nicht viele Interpretationsvergleiche. Diese wird die 20. sein, seit sie 2004 in Aix-en-Provence im Auftrag des Festivals uraufgeführt wurde. Schon im Folgejahr war sie innerhalb des Schleswig-Holstein Musik Festivals zu hören, zwei Jahre später dann folgte in Bielefeld die erste deutsche Bühnenversion. Inzwischen ist sie international mehrmals nachgespielt, zuletzt in München.
Das Werk verbindet Kontinente miteinander, denn der Komponist Hosokawa, 1955 in Japan geboren, wurde zunächst in seiner Heimat ausgebildet, begann mit 21 Jahren aber in Berlin bei Isang Yun ein Studium, später ein weiteres bei Klaus Huber in Freiburg. Hört man jetzt seine Musiksprache, spürt man reizvoll, wie sich die beiden Sphären mischen, wie die alte japanische Kunst sich mit den europäischen Elementen verbindet. Nicht verwunderlich ist, dass sich auch das Sujet seiner Oper komplex entwickelt hat. Es stammt aus China, worauf der Titel „Hanjo“ hinweist, der eine verlassene kaiserliche Mätresse bezeichnen soll. In einem alten Nō-Spiel Japans wird aus dieser Frauengestalt eine Geisha. Noch einmal wandelt Yukio Mishima sie und aktualisiert die Liebesgeschichte zu einem Psychogramm des Wartens, das nun Hosokawa Vorbild für das selbst geschaffene Libretto wurde.
Wer ist die Schöne?
Er nennt die junge Hauptfigur Hanako, der der Zuschauer in Schwerin bereits beim Hereinkommen begegnet. Sie ist eine schwarzhaarige Schönheit in einem eigenwillig geformten blauen Kleid (Bühne und Kostüme: Petra Schnakenberg), das der Besucher jedoch nicht als japanisches Gewand einordnet. Sie scheint jemanden zu erwarten, betrachtet die Männer intensiv, bis sie dann die Zuschauerreihen hinaufsteigt, um sie dort ein weiteres Mal zu mustern. Zu dem im äußersten Pianissimo erklingenden Vorspiel verschwindet sie ganz nach oben. Kurze Zeit später erscheint auf der eigentlichen Spielfläche dafür eine zweite Frauengestalt. Rothaarig ist sie und mit einem Overall bekleidet, erkennbar eine Arbeitskleidung. Sie ist Bildhauerin, ihr Name Jitsuko Honda. Ihr Metier deutet zudem ein Rollentisch mit Farben und Pinseln an. Ein einsamer Sessel steht noch da mit der Anmutung von Privatem, während auf der anderen Seite ein bankartiges hölzernes Gebilde zum Sitzen, Liegen oder Darüber-hinweg-Schreiten auffordert.
Sie arbeitet an einem großen, mannshohen Gipskopf, in dessen Antlitz unschwer Hanako zu erkennen ist, womit sich eine Beziehung zu der Jüngeren andeutet. Aber nur die linke Seite ist ausmodelliert, von der rechten sind die eisernen Streben vorhanden, die einmal die Gipsmasse des noch fehlenden Kopfteils tragen sollen. Diese Bühnenskulptur von Mircea Alexandru Caragea ist zugleich der Ansatzpunkt der intelligenten Inszenierung, mit der es Judith Lebiez gelingt, das geheimnisvolle Sujet zugleich fantasievoll wie realistisch zu deuten. Im Mittelpunkt steht dort das dreijährige Warten auf den, der ihr bei seinem Weggehen am Bahnhof einen Fächer als Treueversprechen schenkte. Ihr täglicher Gang dahin fällt jedoch als ein manisches Verhalten auf, führt sogar zu einem Zeitungsbericht, der wohl einem derjenigen ähnelt, der einst in der M*Halle gedruckt wurde. Hatten sie aber je solch eine kathartische Wirkung und die Kraft eine schicksalhafte Wende herbeizuführen?
Beide lesen ihn, Yoshio, der fern Lebende, für den er den Wunsch nach Rückkehr auslöst, und Jitsuko, die bindungsunfähig und alleinlebend egoistisch verhindern will, dass sich das Paar trifft. Sie zerreißt die Zeitung und sieht eine Lösung darin, Hanako durch eine Reise, einen Ortswechsel zu heilen. Sie verkennt, dass sie scheitern muss, weil das Warten Hanakos Leben geworden ist. Selbst als Yoshio erscheint, den Fächer zurückgeben will und sich als der Ersehnte präsentiert, verleugnet Hanako ihn. Nicht mehr er ist das, was sie will, sondern allein das Warten auf ihn.
Eine Skulptur – drei Deutungen
All das hilft die Skulptur zu verdeutlichen, wenn alle drei sie im Verlaufe des Fortgangs betreten. Für Hanako ist es eine Art Selbsterkenntnis, der sie sich nur flüchtig unterzieht. Sie möchte ihren Zustand beibehalten. Für Jitsuko ist es nichts mehr als ein Überprüfen, wie weit sie Hanako in ihrer Kunst erfasst oder sie sich künstlerisch ihr Wesen angeeignet hat. Am längsten beschäftigt sich Yoshio mit ihr, von innen und von außen. Er versucht sie zu begreifen, sieht aber nur ein Abbild, dringt nicht zu ihr durch.
Es sind musikalisch intensive Momente, wenn die psychischen Konflikte der drei Personen aufeinandertreffen. Das Instrumentarium mit seinen vielen Farben, von Streichern und Bläsern, Harfe sowie unterschiedlichen Stabspielen, dazu eine Menge von weiteren Idiophonen, wie sie asiatische Klangkörper besitzen, machen es Hosokawa möglich, sehr feinsinnig die Wendungen zu gestalten.
Das Publikum war von dem Mecklenburgischen Staatsorchester (Leitung: Aki Schmitt) begeistert, wie es das differenzierte Klanggeschehen umsetzte. Es befand sich hinter der Bühne, nur durch einen dünnen Vorhang abgedeckt. Mit den Protagonisten aber hatte man drei sehr sensible Stimmen und Darsteller. Alle beherrschten sie stimmlich ihre fordernden Partien mit dem Wechsel vom Gesprochenen zu minimalen Intervallen oder zu gewagten Sprüngen. Die Rolle der Hanako gestaltete Anna Cavaliero mit einem feinen und in allen Lagen sehr gleichmäßig klingenden Sopran, der sich gut von Hanna Larissa Naujoks‘ farbigem, aber weicheren Mezzo unterschied. Martin Gerke schließlich setzte sich als Yashio mit seinem kräftigen Bariton wirkungsvoll beiden Frauenstimmen gegenüber ab.
Toshio Hosokawa sagte in einem Interview: „Ich wollte mit der Musik ein Drama illustrieren, das wieder und wieder die Grenze zwischen Traum und Realität überschreitet, zwischen Wahnsinn und Verstand.“ Das zu unterstützen ist der Inszenierung faszinierend gelungen und auch das, sie auch einem europäischen Publikum zu vermitteln.
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