Eröffnungs- und Schlussstücke einer Vertragszeit sind oft Wunschstücke. Der Spanier Guillermo García Calvo begann bei der Robert-Schumann-Philharmonie in Chemnitz im Konzert mit Schostakowitsch und finalisierte in der Oper mit Alban Bergs „Wozzeck“. Nach viel Wagner („Der Ring des Nibelungen“) und Verdi („Aida“) also im Sinne von Pierre Boulez konsequent. Der hatte Bergs „Wozzeck“ nämlich als „letzte Triebhauspflanze der Spätromantik“ bezeichnet. Man erlebte ein messerscharfes Kammerspiel mit einem hochklassigen Ensemble, ein durchdachtes wie starkes Dirigat und in Balázs Kovaliks Inszenierung eine kalt-weiße Gegenwartsstudie. Begeisterter Applaus.
„Wozzeck“ steht nur selten auf dem Spielplan der sächsischen Opernhäuser. Dabei behandelt Alban Bergs Oper-Meilenstein nach dem Fragment von Georg Büchner ein Sujet mit Regionalbezug: Am 27. August 1824 wurde der Perückenmacher Johann Christian Woyzeck in Leipzig mit dem Schwert hingerichtet, nachdem er 1821 seine Geliebte Johanna Christiane Woost umgebracht hatte. Ein Grenzfall zur Unzurechnungsfähigkeit: Woyzeck war von Wahnvorstellungen heimgesucht, die der Arzt Georg Büchner in seinen Text als Angstvisionen setze.
„Wir arme Leut'! Für Büchner und auch Berg war das Sujet eine Fallstudie aus der Perspektive der Gebildeten auf die Sphäre des sich im 19. Jahrhundert herausbildenden Proletariats. Wozzeck ist zerrissen zwischen mehreren Jobs, zu denen auch der des Probanden fragwürdiger Ernährungsexperimente gehört. Dadurch entfremdet er sich seiner Partnerin und deren kleinen Sohn. So die Transformation der Verhältnisse aus dem frühen 19. ins frühe 21. Jahrhundert. Balázs Kovalik und sein Ausstatter Sebastian Ellrich haben das Stück jetzt in die junge Gegenwart weitergedacht. Die Verarmung an Sozialkontakten hat die frühere wirtschaftlich-materielle Armut auf ganz breiter Basis abgelöst. So sind es auch nicht mehr die gern als Karikaturen dargestellten Figur von Doktor und Hauptmann, die Wozzeck malträtieren.
Vor einer kleinen Bühne mit vom chicen Büro zum Golfplatz und Freizeit-Ausschweifungen wechselnden Szenarien sind Soli, die kräftig geforderte Musiktheater-Statisterie und der Opernchor (Leitung: Stefan Bilz) gleichermaßen Tätige, Beobachtende und Kontrollierende eines funktional-dysfunktionalen Musteralltags. Kovalik weicht die Gesellschaftspyramide der „guten alten Zeit“ auf, Soldaten marschieren nur noch als Tele-Event einer Parade am Buckingham Palace, es gibt keine Natur und keinen blutroten Mond. Maries Knabe (Corvin Kriesel) ist schon ziemlich groß, spielt mit Playmobil-Figuren mehrerlei Geschlechts.
Wozzeck wirkt nicht verrückt und nicht arm, sondern ‚nur‘ hilflos. Ein unauffälliger Arbeitsbeflissener in Weiß und Grau. Auf dem Männerklo überwältigen ihn die Wahnvisionen, sonst bleibt Wozzeck bis zum Mord an Marie voll normal. Das System flutscht, allerdings ohne menschliche Nähe. Sehnsüchte brechen sich Bahn trotz junger Moraldiktatur, die sich als Beobachtung aller durch alle zeigt. Manchmal funktioniert der Text zur inszenierten Geschichte, manchmal klaffen Risse zwischen Situation und Wort. Musikalisch ist die Regie insofern, dass Bergs formale Strenge sich in der szenischen Klarheit und Knappheit spiegelt. Ein ästhetisch bestechender Alptraum aus dem begonnenen Zeitalter der totalen Transparenz.
Damit versöhnt keine üppige musikalische Durchdringung. Guillermo García Calvo und die Robert-Schumann-Philharmonie nehmen sich in den vielen Spaltungen in Streicher-Einheiten und Bläsersoli derart zurück, dass man „Wozzeck“ für hochkonzentrierte und fast immer in unteren Dynamikbereichen gespielte Kammermusik halten muss. Da kommt – im Gegensatz zu üppigeren Interpretationen – etwas von dem Verstörungspotenzial zurück, das „Wozzeck“ für die 1920-ger Jahre hatte. Wenn am Ende Maries Knabe allein ist, hat man zum Schluss eine auch musikalisch intensive Bestandsaufnahme zur Sozialtopographie.
Eine besondere bis außergewöhnliche Besetzung hatten die Theater Chemnitz zusammen. Timo Rößner als Andres wirkte etwas blass, wie seine Position im Bürobetrieb. Hauptmann und Doktor waren durch das fast heldische Tenor-Material von Michael Pflumm und den edlen Bass von Alexander Kiechle ernstzunehmende Figuren. Sie bewegen sich so aalglatt durch ihre Nischen wie Sophia Maeno als bemerkenswert smarte und attraktive Margret. Reto Raphael Rosin gibt einen zum bulligen ‚Rockstar‘ mutierten Tambourmajor.
Von der Mitleidsfigur eines Sozialdramas wird Thomas Essl in der Titelpartie zur Musterfigur eines Lebensmodells von gegenwärtig Hunderttausenden. Eingepfercht ist er in stellenweise absurd wirkende Pflichten, sinnfreie Tätigkeiten und wird deshalb immer mehr zu Fragen nach dem Sinn gedrängt. Demzufolge ist Essl hier kein vokal auffälliger Heldenbariton, sondern zeigt einen eher prosaischen und Bergs Noten äußerst genau nehmenden Wozzeck. Mehr ist er im flach-nüchternen Piano als in den großen Expressionen verortet: Im Gegensatz zu Marie: Sie zeigt eine fast inzestuöse Nähe zu ihrem Sohn, beginnt ihren erotischen Lauf aus der schmerzlich erlebten Beziehungsödnis beherzt und trotzdem schuldbewusst. Oft singen Mezzosoprane die Partie. Cornelia Ptassek setzt dagegen einen klar fokussierten, hellen Sopran, der Maries Schrei nach Leben, aber auch ihre Angst und Klagen kräftig wie sinnlich beglaubigt. Wozzecks stumme Schreie nach innen und Maries Jagd ins Leben, so ein Beziehungsmix ist toxisch. Auch davon erzählt Kovaliks Inszenierung – ohne das der Musik zugeschriebene existenzielle Aufbäumen, aber dafür in einer farbintensiv kantigen Spiegelung einer ziemlich unschönen Gegenwart, die allenfalls in einem Sketch zwischen Korsar (Felix Rohleder) und einer Meerfee en travestie (Jurica Jurasić Kapun) in der Handwerksburschenszene leichte Auflockerung findet. Lautstarker Beifall.