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Totalitarismus und Minimal Music

Untertitel
„The Rite of Winter 1949“ von Leonid Desjatnikov in Jena
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„Ich will dem Westen keine Spiritualität verkaufen. Ich krieche nicht in Klänge hinein, sondern arbeite mit ready-mades“, sagt der 1955 in der Ukraine geborene, jetzt in St. Petersburg lebende Leonid Desjatnikov. In Rußland kennt man ihn als Komponisten von Filmmusik und detailfreudig durchgestalteter Kammermusik. Als solchen hat Gidon Kremer ihn entdeckt und protegiert ihn: vor zwei Jahren holte er ihn in sein Festival im schweizerischen Gstaad, und als kürzlich in Jena Desjatnikovs Symphonie „The Rite of Winter 1949“ ihre Uraufführung erlebte, fungierte Kremer mit seiner „KremerATA Musica“ sozusagen als „Anwärmgruppe“. Der Titel „The Rite of Winter 1949“ ist eine Anspielung auf Strawinskys „Sacre du Printemps“ (im englischen Sprachraum „The Rite of Spring“). Bei Strawinsky geht es um ein rituelles Menschenopfer, damit der Frühling kommen kann. Desjatnikov geht es in seiner Symphonie für Solostimmen, Chor und Orchester um das Opfer der psychischen Identität eines Menschen für eine Zivilisation. Er hatte ein Schulbuch aus der Stalinzeit gefunden: „Stories for Boys and Girls“ für den Englischunterricht der fünften und sechsten Klasse, erschienen in Moskau 1949. Er war so entsetzt über die übervereinfachte Sprache und die platten Geschichten aus einem einfältigen Musteralltag, daß er beschloß, diese Texte mit einer gehörigen Portion Ironie zu vertonen. „Ich wollte darin keine Vergangenheit aufarbeiten“, sagte er. „Ich habe einfach gefühlt, daß ich das tun muß“. Musikalisch aktualisierte er die Texte, indem er zu ihrer Vertonung die opulente Klanglichkeit der russischen Spätromantik mit der Kleingliedrigkeit amerikanischer Minimal-Music verband. Das erklärt er so: „Wenn ich Musikwissenschaftler wäre, würde ich über den Zusammenhang zwischen amerikanischer Minimal Music und Totalitarismus schreiben. Nicht, daß ich die Minimal Music nicht schätzen würde. Von Steve Reich und John Adams zum Beispiel habe ich eine Menge gelernt. Aber sie vermittelt so ein Gefühl unendlicher Freude in Abwesenheit jeglichen bewußten Denkens. Die individuelle Kritikfähigkeit ist völlig ausgeschaltet. Darin liegt ihre Parallele zur offiziellen sowjetischen Musik. Ich mache hier sozusagen Musikwissenschaft mit musikalischen Mitteln“. Das Idiom der Minimal Music ist für Desjatnikov wie ein Sinnbild für die freundlich strahlende Dümmlichkeit, als die russische Intellektuelle die westlichen Hegemoniebestrebungen der jüngst vergangenen Jahre empfinden. Für die Uraufführung im Rahmen des europäischen Chorfestivals EUROvoices, das seit einigen Jahren in Jena stattfindet, hatte der junge Jenaer Generalmusikdirektor Andrey Boreyko überaus engagierte Arbeit geleistet. Doch angesichts der enormen technischen Schwierigkeiten dieses Werks haben nicht nur einige der eingeladenen Chöre ihre Teilnahme abgesagt. Auch das Orchester der Jenaer Philharmonie bekam im Rahmen der Probezeit nicht die nötige Souveränität. Und so vermittelte diese Uraufführung noch nicht ganz jene zwingende Geschlossenheit, die sich erahnen ließ, wenn man die Probenarbeit mitverfolgt hatte. Dennoch äußerten sich die Musiker begeistert über das Werk: manche hätten es jetzt gern für ein halbes Jahr in sich wirken lassen, um es dann noch einmal für eine Aufführung aufzubereiten.

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