Arndt Voß besuchte die „Romeo und Julia“-Premiere am Theater Lübeck. Vincenzo Bellinis selten inszenierte Oper wurde wirksam auf die Bühne gebracht. Mit dabei: Die Portion Kitsch am Ende. Belcanto und Belvideo …, ein großer Opernabend.
Romeo und Julia sind das berühmteste Liebespaar. Unzählige Male und in jeder Kunstform ist ihr dramatisches Geschick gestaltet worden. Erzählt wohl zuerst im 14. Jahrhundert hat das Sujet viele inspiriert. Aber in keiner der Fassungen klingt es so schön wie bei Vincenzo Bellini. Romeo und Julia lässt er in Wohllaut schwelgen, zugleich in Herzensqual zerbrechen. Und trotzdem schafft er es, Liebe und Leidenschaft, eingebunden in eine böse Familienfehde und ein tragisches Geschick, nicht im Belcanto zu ertränken, sondern allem einen intensiven Ausdruck zu geben.
Das Theater Lübeck scheint sich in dieser Spielzeit auf das Liebespaar eingeschworen zu haben. Schon einmal war es zu erleben, im Oktober 2015 in Bernsteins effektvoller „West Side Story“. Jetzt, nur ein halbes Jahr später, lebte es in Bellinis „Romeo und Julia“ auf (Premiere: 8. April 2016). „I Capuleti e i Montecchi“ nannte der Komponist seine 1830 uraufgeführte Tragedia lirica im Original. Felice Romani hatte ihm das dramatisch sehr verdichtete Libretto verfasst, für das er gerade einmal fünf Protagonisten benötigt und einen Chor. Romeo ist der einzige Vertreter des Geschlechts der Montecchi, wird damit zum großen Gegenspieler Capellios, des Oberhaupts der Capuleti. Beide Familien liegen in unversöhnlicher Feindschaft. Zudem hatte Romeo im Kampf den Sohn Capellios unwissentlich getötet, ein Geschehen, das vor Beginn der Opernhandlung liegt. Quasi als Versöhnungsversuch fordert Romeo die Hand Julias, der Tochter Capellios. Beide sind schon länger in heimlicher Liebe verbunden, obwohl Julia von dem Unglück mit ihrem Bruder weiß. Doch Capellio will Tebaldo, einen seiner Vertrauten, zum Schwiegersohn, der zum kämpferischen Rivalen Romeos wird. Einzig Lorenzo unterstützt das Paar, der Arzt am Hofe Capellios, der sich durch deren Verbindung ein Ende der Familienfehde erhofft. Doch bekanntlich führt alles zum tragischen Ende mit Scheintod und doppelter Verzweiflungstat und zur Versöhnung der Familien.
Inszenierung mit Seltenheitswert
Rätseln kann man, warum diese Oper dennoch so wenig inszeniert wird und sie, wie jüngst in Berlin oder Klagenfurt, auch in Lübeck vor rund 20 Jahren, nur konzertant erklingt. Dabei bietet Bellinis Musik nicht nur den berauschenden Belcanto, von dem selbst ein Wagner schwärmte, dass „bei Bellini die klare Melodie, der einfach edle und schöne Gesang … entzückte“, nachzulesen im Lübecker Programmheft. Auch die Handlung ist wirksam, obwohl oder weil nicht Shakespeares personal- und aktionsreiches Drama zugrunde liegt, ein Werk, das Felice Romani gar nicht kannte. Beide nutzten unabhängig italienische Vorlagen, die bis ins 14. Jahrhundert zurückreichen.
Die verknappte Handlung bedingt, dass das Wesentliche in der Musik ausgebreitet wird. Das wiederum setzt hohe Ansprüche an die Sänger, allen Seelenregungen Ausdruck zu geben. Zum anderen erfordert es von der Regie, auf der Bühne die geringe Aktion zu beleben. Dafür nun hat Michael Sturm zusammen mit seinem Ausstatter Stefan Rieckhoff für Lübeck eine ansehnliche Spielfassung gefunden. Sie zeigen, dass diese Oper durchaus wirksam zu inszenieren ist. Spürbar nahe dran an der Musik, gestalten sie viele natürlich wirkende Bilder. Als Beispiel sei die große Chorszene am Anfang genannt. Das Libretto fordert nur Männer. Dennoch erscheint bereits Julia, die damit die reine Männerwelt aufbricht und zugleich stumm die innige Beziehung zu ihrem Vater deutlich macht.
Aktion im Mafioso-MIlieu
Bellini war Sizilianer. Da lag es nahe, mafioses Milieu zu schaffen. Das Schwerter-Blitzen historisch animierter Inszenierungen (wie etwa 2008 in Paris) wird vermieden. Ein paar bedrohliche Revolver genügen. Sinnvoll werden die Clans unterschieden, wenn die Anhänger Capellios in seiner Festung im Anzug auftreten, die Montecchi außerhalb Hut und Mantel tragen. Rieckhoff hat zudem ein variables Rondell auf die Bühne gestellt, mit schwenkbaren hohen Kulissenteilen im Vordergrund. Sie erlauben leicht veränderliche Einblicke, sogar eine veritable Balkonszene, Reminiszenz an Shakespeare wie die, dass Lorenzo hier zum Geistlichen wird. Eher kitschig allerdings ist der Schluss. Eine Gruft mit roten Leuchten und Julia auf einem Schneewittchen-Sarg fährt während der Handlung aus dem Bühnengrund herauf und senkt sich wieder nach ihrem Erwachen.
Belcanto der schönsten Art
Das ganz große Plus der packenden Inszenierung sind die Akteure, die bis auf den Bass alle dem hauseigenen Ensemble entstammen. Vor allem das Liebespaar sticht hervor. Ihm glaubt man beides, seinen Charakter und auch das Alter. Die gertenschlanke Evmorfia Metaxaki, die bereits die Maria der „West Side Story“ sang, war eine anrührende Julia. Mit ihrer strahlkräftigen Stimme, auch für handfeste Auseinandersetzung mit Vater oder Tebaldo gewappnet, bewältigt sie alle Koloraturen lupenrein und ging der Gefühlswelt der jungen Julia dynamisch sehr sensibel nach. Und auch den Romeo der Wioletta Hebrowska kann man sich nicht besser vorstellen. Ihr gehaltvoller, warm timbrierter Mezzo spannte sich von klarer Höhe bis zu immer noch markanter Tiefe, obwohl Bellini der Sängerin da einiges abverlangt. Aber in expressiver Dynamik und stimmlicher Schattierung war ihre Leistung atemnehmend, zumal sie auch darstellerisch die Hosenrolle vergessen ließ. Wahrlich beglückend war, sie im Duett mit Julia zu erleben, da sich nicht nur beider Stimmen wunderbar ergänzten, sie auch im Gestalten zur Einheit wurden.
Der Tenor Daniel Jenz als Tebaldo, auch in der schlanken Erscheinung ein optisch angemessener Rivale, überraschte mit erstaunlicher Wendigkeit im Ausdruck und Kraft bis zu den Spitzentönen. Weniger gefallen konnte Andrey Valiguras, der zwar über einen intensiven Bass verfügt, aber wenig nuancierte. Der Lorenzo war dem sicheren, lyrisch klingenden Hyungseok Lee anvertraut, einem Sänger aus dem Opernelitestudio. Der Chor hat eine große Partie zu bewältigen, stimmlich und spielerisch, zumal er in zwei Rollen auftreten muss. Auf der Bühne agierten jedoch nur die Herren, da die einzige Szene mit Damen aus dem Off erklang. In Klang und Wendigkeit hat er sich deutlich gesteigert, seit Jan-Michael Krüger Chordirektor geworden ist. Die Gesamtleitung hatte Andreas Wolf, Lübecks Erster Kapellmeister. Er hielt Orchester und Bühne gut zusammen, bemühte sich auch um die kammermusikalischen Feinheiten. Dennoch hätte man sich das Forte des Orchesters weniger hart gewünscht, auch in rein instrumentalen Partien mehr dynamische und agogische Differenzierung. Bellinis Partitur hat da mehr zu bieten, als hörbar wurde. Wie mit dem Instrument zu singen ist, erfüllte sich im Orchester durch die Solisten, die Klarinette, die Harfe oder das Cello, während das Horn zu Julias Kavatine zu ängstlich klang.
Darsteller und Regie lieferten einen großen Opernabend, für den das Publikum mit langem und begeistertem Beifall dankte.
- Weitere Aufführungen in dieser Spielzeit: 16. und 28 April, 8. Mai, 5. und 24. Juni 2016