Während Europa sich aktuell über die Bespitzelung durch die USA empört, startete Michael von Hintzenstern mit der 26. Ausgabe seiner „Tage Neuer Musik“ in Weimar einen transatlantischen Lauschangriff der klingenden Art. Unter dem Motto „Amerika-Europa“ beleuchtete das Festival zwischen dem 30. Oktober und dem 3. November 2013 die tönenden Transferbewegungen zwischen der Alten und der Neuen Welt, die in den 1950er-Jahre einen ersten Höhepunkt erreichten.
Hatten während des Zweiten Weltkriegs europäische Emigranten die amerikanische Musikszene beeinflusst, sorgte Mitte der 1950er-Jahre die junge US-Avantgarde in Europa für Furore und entwickelte dabei auch ein von Europa unabhängiges Selbstbewusstsein. Dieses bündelte sich insbesondere in der „New York School of Music“, die im Eröffnungskonzert der „Tage Neuer Musik“ in den Fokus rückte. Neben einem Werk von Jonathan Harvey und einem Beispiel von Morton Feldmans erregender Langsamkeit, durfte hier natürlich John Cage nicht fehlen. In „Four6“ aus der Reihe seiner „Number Pieces“ gibt Cage den Interpreten ein hohes Maß an klangerfinderischen Freiheiten, die nicht nur das Stuttgarter Open-Music Quartett für eine lebendige Interpretation nutzte. Auch das Auditorium mischte kräftig mit: Eine Uhr signalisierte piepsend den Stundenwechsel, wenig später vibrierte brummend ein Handy und als kurz darauf eine junge Dame einen hartnäckigen Schluckauf bekam, war der Albtraum eines jeden Konzertveranstalters perfekt. Den Klangerfinder Cage dürften diese Alltagsgeräusche dagegen gefreut haben. Höhepunkt des Abends war aber Christian Wolffs Quartett „Santa Fe“, das im Beisein des Komponisten aufgeführt und dadurch umso lebendiger wurde.
Michael von Hintzenstern lud Wolff auch deshalb als „composer in residence“ auf das Festival nach Weimar ein, weil seine Vita paradigmatisch für die klingenden transatlantischen Transfers steht: In Brooklyn als Sohn deutscher Eltern geboren, wurde er zunächst Schüler des emigrierten Stefan Wolpe, bevor er mit dessen Widersacher Cage gemeinsame Sache machte. Zu Ehren seines Kommens, verzeichnete das Programm des zweiten Abends ausschließlich Werke, die Christian Wolff in den späten 1960er- und den frühen 1970er-Jahren komponierte und die in der Interpretation durch das Ensemble für Intuitive Musik Weimar (EFIM) eine gelungene Weimarer Aufführung erlebten.
Im weiteren Verlauf verfolgte das Festivalprogramm den künstlerischen Austausch zwischen Alter und Neuer Welt bis in die Jetztzeit. So beleuchtete etwa die „Sprach-Klang-Video-Performance“ des Niederländers Jaap Blonk den aktuellen Stand des „Transatlantic Flux“. Ließ sein „mixtum compositum“ aus Dada- und Fluxus-Texten die spontane Kreativität der frühen Aktionskunst aufleben, war das „Alphorn Special“ des „Posaunenvirtuosen und Allesbläser“ Mike Svoboda ein ohrenzwinkerndes Kuriosum, während das abschließende „Konzert mit Ondes Martenot“ die Pionierzeit der elektronischen Klangerzeugung noch einmal aufleben ließ. Schließlich durfte bei der Weimarer Schau über den Atlantik die Einbindung des Kanadiers Robin Minard nicht fehlen, der als prominenter Professor für Elektroakustik an der örtlichen Musikhochschule „Franz Liszt“ lehrt. Durch die Gegenüberstellung europäischer und amerikanischer Komponisten, wurde der transatlantische Musik-Transfer bei den 26. Weimarer „Tagen Neuer Musik“ auch klingend erfahrbar. Einen besonderen Reiz aber schuf die Einbindung von Zeitzeugen, die das Festival zu einer höchst lebendigen Rückschau auf die historisch gewordene Avantgarde machten. Neben Christian Wolff hatte Hintzenstern mit Mary Bauermeister die „(Groß-)Mutter des Fluxus“ zum Zeitzeugengespräch nach Weimar geladen. So sprudelnd wie wort- und bildreich ließ sie ihre Erinnerungen in der Weimarer „Galerie Eigenheim“ vor jungen und alten Freunden der wilden Nachkriegsavantgarde aufleben. Bauermeister war nicht nur mit Karlheinz Stockhausen, dem Patron von Hintzensterns „Tagen Neuer Musik“, in einer „ménage à trois“ verbunden.
In ihrer legendären Galerie in der Kölner Lindgasse hatte sie die Protagonisten der transatlantischen Fluxus-Bewegung aufgenommen und aufgeführt, bevor die Bewegung überhaupt ihren Namen erhielt. Mehr als anekdotischen Wert hatte ihre Schilderung von den Stürmen aus Buh-Rufen und Gelächter, deren Zeugin sie bei den ersten aleatorischen und elektronischen Konzerten wurde.
Bauermeister ließ den legendären Darmstädter Jahrgang 1958, an dem sie als Malerin teilnahm, genauso auferstehen wie den Abend, an dem Nam June Paik brüllend sein erstes Klavier zertrümmerte. Als sie Anfang der 1960er-Jahre nach New York ging, wurde sie Teil und Zeugin eben jener New York School, die mit provokanter Traditionslosigkeit die Grenzen der Hochkultur verschob. Hier wurde Bauermeister 1964 auch Zeugin der eklatanten Entzweiung der bis dato transatlantischen Fluxus-Bewegung, als sie und Stockhausen sich bei der New Yorker Premiere ihrer „Originale“ protestierenden Demonstranten gegenübersahen. Hatte in Europa infolge der amerikanischen Experimente manch einer das Ende der abendländischen Musiktradition befürchtet, wetterte man auf der anderen Seite des Atlantiks nun gegen den hegemonialen Export der europäischen Kunstmusikauffassung, als deren Exeget Stockhausen angesehen wurde. In Flugblättern forderten die Demonstranten: „Stockhausen-Patrician ‚Theorist‘ Of White Supremacy: Go To Hell“.
Manch einer mag unken, dass Michael von Hintzenstern mit Fluxus, Dada und Intuitiver Musik eine vergangene Avantgarde fokussiere. Aber ist das falsch? Wo die Kunstmusik zu gefühlten – wenngleich nicht bestätigten – 90 Prozent aus der Reproduktion vergangener Epochen besteht, warum soll da keine Historisierung innerhalb der Moderne stattfinden? Dies gilt umso mehr, weil die illustren Zeitzeugen die 26. „Tage Neuer Musik“ in Weimar zu einer ebenso anekdotenreichen wie lebendigen Zeitreise in die Geschichte der transatlantischen Nachkriegsavantgarde machten.