Musiktheater als Polit-Thriller von erschreckender Aktualität – Peter Tschaikowskys „Mazeppa“ wird zu einer abschließenden Gloriole von Bernd Loebes Intendanz bei den Tiroler Festspielen in Erl.
Traum-Ensemble ohne Star-Namen – Sternstunde mit „Mazeppa“ in Erl
Erl – da dominierte in Phase des Vorgängers Wagner. Gerade begeistert am Ende der fünfjährigen Rettungsarbeit Bernd Loebes noch einmal der blendend überarbeitete „Ring des Nibelungen“ in Brigitte Fassbaenders Inszenierung. Da überrascht, dass Loebe kein populäres Werk, sondern eine selten gespielte Oper Tschaikowskys als letzte Premiere gewählt hat.
Doch Loebe war angesichts des beginnenden Ukraine-Krieges und vor den Gaza-Ereignissen schon von der brennenden Aktualität „Mazeppas“ überzeugt und stellte bereits damals ein brillantes Ensemble zusammen.
Prompt machte Dirigent Karsten Januschke schon mit den ersten harten Bläserakkorden klar, dass das in selbstquälerischem Ringen von Tschaikowsky geschaffene Musikdrama eben nicht nur von „tiefer russischer Seele“ in spätromantisch harmonischen und emotional schwelgenden Melodien geprägt ist. Anders als „Eugen Onegin“ oder „Pique Dame“ überwältigte auch ihn der historische Kern: Aufstieg und Machtkämpfe des ukrainischen Kosaken-Hetmanns Mazeppa um 1700; dessen Abkehr von Zar Peter; Mazeppas Bündnis mit den Schweden und Polen samt dem Hintergedanken einer ukrainischen Unabhängigkeit; das Scheitern aller Hoffnungen in der Schlacht bei Poltawa 1709; sein Ende im Exil. In dieses Großszenario hat Tschaikowsky natürlich eine unglückliche Liebesgeschichte zwischen dem grauhaarig reifen Mazeppa und der mädchenhaftjungen Maria eingeflochten. Doch diese Passagen und die lyrischen Klagen des unglücklich liebenden Jugendfreundes Andrej dominierte eine herbe, kantige, mehrfach schroff umbrechende Klangwelt, die in der Schlachtmusik zu „Poltawa“ gipfelte, aber Qual und Elend nie aussparte. Mehrfach wurde hörbar, woran ein Prokofieff und Schostakowitsch anknüpfen konnten. Für diesen dramatisch modern klingenden Tschaikowsky, in dem große Emotion immer wieder von kalter Unwirtlichkeit bis hin zu brutalen Eruptionen abgewürgt wurde, ernteten Januschke und das dementsprechend aufspielende Festspielorchester zu Recht Bravorufe.
Die Klangkulisse verschmolz auch gänzlich mit der Szene – deren aktuelle Parallelen einen förmlich ansprangen, mit Bibi Abels Video-Sequenzen aktueller Kriege auf den kahlen Wänden vertieft und dann von Regisseur Matthew Wild und Ausstatter Herbert Murauer unausweichlich hart „vorgeführt“ wurden: nach dem Zerfall der Sowjetunion die Rivalitäten einer gediegen und sich sogar „Kunst-liebend“ inszenierenden Oligarchen-Mafia mit ihren jeweiligen Mordbanden samt Designer-Sonnenbrillen; die kaum verdeckte Brutalität mit blutiger Folter und Tötung; demgegenüber Not, Flucht und Elend der Bevölkerung; die Zerstörung der heilen, behüteten Welt der Oligarchen-Kinder und ihr Ende in Tod oder Wahnsinn… ein szenischer Bilderfluss von der erschreckenden Realität unserer Welt, in Bann schlagend.
Dafür hatte Altmeister Murauer entgegen der technischen Begrenzung der Bühne eine faszinierende Lösung gefunden. Sein großer, heller Raum konnte auch eine vergrößerte Brutalismus-Betonzelle sein. Er ließ vor allem alle Menschen auf dem Bühnenboden „klein gegenüber dem Gesamtsystem“ erscheinen. Reinhard Traubs differenzierte Lichtregie gipfelte im großen Monolog Mazeppas, als er „unten“, auf dem Bühnenboden hinten in Normalgröße begann, reflektierend einem Spot am vorderen Bühnenrand entgegenschritt und zum riesigen „Schatten-Helden“ emporwuchs, ehe ihn sein scheiterndes Liebesglück wieder zusammenschrumpfen ließ. In der Mitte der Rückwand öffneten sich mehrfach zwei Schiebewände zu fensterartigen „Einblicken ins Leben der Großen-Schönen-Mächtigen“ – in diesem mal großen, mal kleinen Wandausschnitten wanderten „Lebensräume“ hin und her: Home-Story-Familientafel des Oligarchen Kotschubej; ein Bad mit goldenen Armaturen; das Kinderzimmer Marias voller Plüschtiere; Mazeppas Konferenzraum mit der Gang, sein Schlafzimmer mit Maria. Unten das mal staunend, mal ängstliche, auch mal mit einer klassischen Ballett-Einlage „betreute“ Volk; es verfolgte sensationsgierig die bluttriefende Abschlachtung Kotschubejs am Fernseher und endete im Flüchtlingselend (fein abgestufte Einstudierung: Olga Yanum). Atemverschlagend die Schlusssequenz, als das Bad mit bluttriefenden Wänden und allen Getöteten nochmals „vorbeifuhr“ - Heiner Müllers „Die Geschichte ist ein Schlachthaus“. Beeindruckend konsequent hat Regisseur Wild dies bis ins aktuelle Detail geformt, auch bis hin zum kleinen Spielkameraden der hinzuerfundenen Kind-Maria. Sie packte als liebende Kindfrau Mazeppas anfangs ihre Plüschtiere weg – doch als sie an Mord und Liebesbruch wahnsinnig gewordene, einsam Verlorene gleichsam als rettende Erinnerung den großen Teddy am Ende wieder auspackte, war dieser blutbedeckt und trug Schusswunden - Blackout.
Atemverschlagend die Schlusssequenz, als das Bad mit bluttriefenden Wänden und allen Getöteten nochmals „vorbeifuhr“. Beeindruckend konsequent hat Regisseur Wild dies bis ins aktuelle Detail geformt, auch bis hin zum kleinen Spielkameraden der hinzuerfundenen Kind-Maria. Sie packte als liebende Kindfrau Mazeppas anfangs ihre Plüschtiere weg – doch als sie an Mord und Liebesbruch wahnsinnig gewordene, einsam Verlorene gleichsam als rettende Erinnerung den großen Teddy am Ende wieder auspackte, war dieser blutbedeckt und trug Schusswunden - Blackout.
Dass aus diesen fast durchweg Geschlagenen dann auch große Töne hin zu Melodien hervorbrechen können, machte ein Traum-Ensemble ohne Star-Namen vokal bewegend hörbar. Von den kalt-glatten „Consiglieres“ von Dennis Chmelesky und Carlos Cádenas , der hilflos angepassten Mutter von Helene Feldbauer über die beseelte Tenor-Lyrik der Jugendliebe Andrej von Mikhail Pirogov hin zur Kindfrau Maria von Nombulelo Yende mit süßem und strahlenden Sopran, gipfelnd in zwei dunklen Traum-Stimmen: Bass Alexander Roslavets machte die altväterlich unmoderne Grandezza Kotschubejs bis zu dessen blutigen Ende zu einem Klage-Bogen, der viele Augen – auch die des Rezensenten - feucht werden ließ; jubelnder Solo-Beifall. Petr Sokolovs Mazeppa vereinte virile Eleganz, heldenbaritonale Männlichkeit, hart berechnende Boss-Souveränität und ebenfalls klagend anrührende Emotionen beim finalen, Wotan-ähnlichen Blick in die „Trümmer der eigenen Welt“ – erneut jubelnder Solo-Beifall. Alle waren erkennbar überlegt, expressiv und geradezu fesselnd nahe am Polit-Thriller geführt – und gleichzeitig damit dann auch noch das musiktheatralische Ideal erreichend – Walter Felsenstein schien zu grüßen: dass der singende Mensch einen selbst weiter und tiefer erleben lässt. Eine musiktheatralische Sternstunde also, die Bernd Loebes fünfjährige Rettungsarbeit des einst darniederliegenden Festspielorts Erl mit einer abschließenden Gloriole versieht.
Weiterlesen mit nmz+
Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.
Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50
oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.
Ihr Account wird sofort freigeschaltet!