Der österreichische Georg Friedrich Haas (geboren in Graz 1953) ist einer der markantesten Komponisten der Gegenwart, der mit neugierigem Intellekt und in den letzten Jahren spürbar wachsender sinnlicher Energie unermüdlich schöpferisch tätig ist (auch in Donaueschingen steht in diesem Jahr noch ein Orchesterwerk zu Uraufführung an: „natures mortes“). Wie von unwiderstehlicher Energie fühlte er sich schon immer zum Nächtlichen hingezogen. „Nacht“ hieß denn auch sein Opernerstling über Hölderlin, der wie nun die neue Oper „die schöne wunde“ ebenfalls in Bregenz (1996, szenisch 1998) uraufgeführt wurde. Nacht und Dunkelheit beherrschte fortan noch intensiver sein Denken, seine Musik sollte zum Beispiel passagenweise in völliger Dunkelheit gespielt und gehört werden, so etwa „in vain“ für Instrumente und Lichtstimme oder das 3. Streichquartett „In iij. Noct“, das 2002 in unterirdischen Gewölben der südtiroler Franzensfeste aufgeführt wurde.
So war es nur konsequent, dass Haas sich nun den literarischen Alptraumsequenzen von Franz Kafkas „Der Landarzt“ und Edgar Allan Poes „Grube und Pendel“ zuwandte: Hier die direkte, wenn auch anfangs nur schemenhaft ausmachbare Bedrohung durch das sich schwingend niedersenkende, zum Messer geschliffenen Pendel, im „Landarzt“ die lauernde Gefahr, die trotz aller Rationalität der Erzählung sich immer zäher um den nächtlich zu einem todeswunden Patienten gerufenen Doktor legt. Strukturelle Ähnlichkeiten der beiden Texte regten Haas an, sie ineinander zu verschlingen, gewissermaßen als gedoppelte Traumpassage mit Sprüngen und sich wuchernd ausbreitenden Assoziationen. Dazu dienten denn auch die dazwischen geschobenen Tableaux vivants: Bilder mit Passagen aus Shakespeares „Romeo und Julia“, aus einem Brief Rosa Luxemburgs, die aus der Gefangenschaft heraus zornig zum befreiten Leben aufruft, aus einem pornographischen Renaissancetext Aretins, aus dem Hohelied Salomons oder auch aus der „Philemon und Baucis“-Erzählung Ovids. Traum als Angstverarbeitung wandelt sich hier zum Träger offener oder geheimer Wünsche, hin zum Obszönen, zur erfüllten Liebe, zur Projektion von Glück.
Das klingt überzeugend, war aber gleichwohl die Schwachstelle des neuen Stücks. Daran Anteil hatte eine nicht stattfindende Regie, Hermann Feuchtner und Wolfgang Göbbel hatten sich ihren Kenntnissen und Fähigkeiten entsprechend auf szenische Rauminstallation und Licht Design zurückgezogen. Bebildern kann man freilich diesen vom Komponisten selbst zusammengestellten Text nicht, Feuchtner und Göbbel aber fühlten sich, offenbar um ein Vakuum aufzufüllen, immer wieder bemüßigt, die Protagonisten in Elends- und Leidens-Stereotypien über die schräg nach hinten angehobene Bühne aus geometrischen Laufstegen und knie- bis hüfthoch eingelassenen Gängen zu schleppen. Das wirkte einfach arm, konkretisierte das Unkonkrete auf falsche Art. Kafkas Gestalten, fast alle bislang entstandenen Kafka-Opern von Aribert Reimann („Schloss“) bis zurück zu von Einem („Prozess“) bezeugen dies, sperren sich einer Bühnenwirklichkeit. Ihre Existenz braucht die Ratio der Prosa, die alle Begleitumstände analytisch beleuchtet, die Gestalt aber ganz im Ungewissen belässt. Ist sie aber auf der Bühne da – und das Liberetto von Haas tut nichts dagegen, sondern belässt es deckungsgleich bei Kafkas Ich-Erzählung mit der Aufforderung zum Nachspielen –, dann werden die Personen zur schlechten Konkretheit. Ganz ähnlich ist es mit dem Gefangenen in Poes ebenfalls in Ich-Form gehaltener Erzählung. Sieht man die gefesselt leidende, von Ratten umlagerte und vom Pendel bedrohte Gestalt, sieht man sie sich angstvoll winden, dann ist die weit tiefere, im Unbewussten grabende Traumangst passé. Haas weiß das wohl, aber sein Libretto und über Passagen auch die musikalische Umsetzung im Opern-Erzählton schaffen auch für künftige Inszenierungen kaum Barrieren gegen solche das Ungewisse ins eindimensional Gewisse zerrenden Regieansätze. Das Scheitern der Regie wurzelte in der dramaturgischen Anlage, der zusätzlich noch das wenig zwingende, fast gesucht zitatartige des Zusammenbindens verschiedener Literaturvorlagen anzulasten wäre – denn die irreale Sprunghaftigkeit verwirrter Traumzustände vermochte das Libretto dann auch wieder nicht nachzuzeichnen.
Gleichwohl wurde die Aufführung zum Erfolg. Das lag an der Musik und an ihrer grandiosen Umsetzung durch das Klangforum Wien und das Vokalensemble NOVA unter dem Dirigenten Sylvain Cambreling. Haas gelang es, immer wieder die Musik faszinierend zu konzentrierten, soghaft vereinnahmenden Sequenzen zu verdichten. Viel hat er sich in all seinen Arbeiten mit Aspekten der Mikrotonalität befasst und Haas verfügt über ein ungemein breites Spektrum klanglich suggestiver Möglichkeiten. Eine Idee, bei aller collagenartig von Schönklangtonalität, verschobenem Dreiklangseuphorismus bis zu herb rüder Schichtung verwobenen Anlage, beherrscht nachdrücklich die ganze, zweieinhalbstündige Oper: das sirrend schwingende Geräusch des immer bedrohlicher sich nähernden Pendels.
Hier, in genauer orchestraler Ausformung, entstand solch ein unausweichlicher Sog, der sich wie immer wiederkehrende Wogen über das vom Orchester räumlich umlagerte Publikum stülpte. Dass Entkommen nicht möglich ist, dass wir eingeschnürt sind in immer vergeblichere Hoffnungen, denen unsere Existenz immer weniger Raum gewährt, wurde drastisch zwingend erfahrbar. Gerne blendete man hier die szenischen und dramaturgischen Unzulänglichkeiten weg und überließ sich dem erschütternd und sensibel zugleich ausformulierten Klang. Georg Friedrich Haas hat Musik auf einem Niveau geschrieben, das alles Bisherige von ihm wohl übertrifft. Lockerheit der Mittel griff Hand in Hand mit erfüllter Tiefe umlagernder Bedrohung. Großartig reihten sich die Solisten ein: Und wenn man Georg Nigl (Gefangener), Melanie Walz (Sopran in diversen Rollen) oder den Countertenor Kai Wessel hervorhebt, dann nur, weil ihnen vielleicht noch dringlichere, ja hautnähere Identifikation mit dem musikalischen Verlauf gelang. Doch wie gesagt: Die Aufführung befand sich auf einem Niveau, von der andere Opernfestspiel-Projekte oft nur träumen können. Die Musik von Georg Friedrich Haas lieferte hierfür eine profund animierende, zu extremer Leistung anstachelnde Basis. Und Gottseidank ist immer noch die Musik die fundamentale und letzte Instanz der Oper.