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Die „Königskinder“ am Theater Münster. Foto © Thilo Beu

Die „Königskinder“ am Theater Münster. Thilo Beu

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Traurigschönes Märchen in Münster: Humperdincks „Königskinder“

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Erste Reprise nach der Premiere von Engelbert Humperdincks in den letzten Jahren endlich wieder häufiger auf die Spielpläne kommende Märchenoper „Königskinder“. Die 1910 in New York uraufgeführte Apotheose ganz später deutscher Opernromantik mit Spurenelementen aus dem Zeitgeist des beginnenden 20. Jahrhunderts gilt den einen als schwierige Opulenz-Monstrosität, anderen als Erfüllung eines zutiefst betörenden und dabei pessimistischen Werks. Am Theater Münster erklang es in einer wunderbaren Produktion mit Fingerzeigen auf ernst genommene Liebespoesie, Klimawandel und Kleinbürgermiseren. An der Spitze: Garrie Davislim in der Tenor-Paradepartie des Königssohns und ein prachtvoll spielendes Sinfonieorchester Münster unter Henning Ehlert. 

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Henning Ehlert, der sich das Stück ausdrücklich gewünscht hatte, fand mit Nachdruck und Kraft zu den unzählbaren Klangschönheiten Humperdincks. Neben den Kontrasten von Waldpoesie in der wärmenden und später eiskalten Jahreszeit zum derben Volksfest mit „Prügelei!“ war das Sinfonieorchester Münster schwelgendes, lauschendes und beglückendes Fundament des Abends. Dieser Orchesterpart berührt durch emotionale Sensibilität und eine aus volksliedhaften Idiomen gespeisten Kunstfertigkeit von hohen Gnaden: Die Gänsemagd und der Königssohn überwinden mit ihren Gefühlen zueinander soziale Schranken, scheitern aber an der im primitiven Vorteilsdenken befangenen Umwelt. Deshalb gehen sie zugrunde – und damit fallen in dieses Märchen immer wieder die Sozialmiseren vor 1914. 

Ziel fast aller „Königskinder“-Inszenierungen ist es, Humperdincks und Bernstein-Porges‘ hinter Poesie verborgenen Pessimismus herauszuholen. Die realistischen Ansichten auf einer frühsommerlichen und einer herbstlichen Fotografie aus Wäldern des Münsterlandes, die aus einem Fotowettbewerb ausgewählt wurden, verbinden Natursehnsucht und Preziosität. Die Regisseurin Clara Kalus, Bühnenbildner Dieter Richter und Carola Valles mit den Kostümen erarbeiteten drei Zeitebenen: Königssohn und Gänsemagd agieren etwas entrückt und immer leicht neben der Realität schwebend. In der rauen Stadtgesellschaft Hellabrunn glotzt die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft in eine hölzerne Fernsehröhre mit antiken Antennenornamenten. Der von Anton Tremmel super einstudierte Hauschor-Großtrupp mitsamt Extrachor-Splittergruppen und Kinderchor setzt ganz scharfe Akzente zur Poesie der Fertig-Hexenhütte mit Bilderbuch-Blumengarten zuerst, später mit Müllplatz und Kühlschrank-Friedhof. 

Humperdincks Hellabrunn ist überall: Wie ein Stroboskop-Gewitter knattert die Stadtansicht Münster am Prinzipalmarkt in den Märchenhintergrund. Die sich von den Älteren lossagenden und mit dem Spielmann solidarisierenden Kinder gehören schließlich zur „letzten Generation“. Eine leidenschaftliche Erbosung wie des Königssohns vor der Hellabrunner Bürgerschaft kann man von dieser Jungschar nicht erwarten. In ihren Blicken liegt zumeist passives Staunen. Kalus hat das mit Mut zu sehr inniger und auch sehr deutlicher Gestik entwickelt. Man versteht sofort, was mit dem Blumenkranz in der ersten langen Umarmung der Gänsemagd mit dem Königssohn noch zerreißt. Garrie Davislim und Anne Schoeck zeigen, wie aus überwältigender Sympathie tiefe Emotionen entstehen und dazu auch der Erkenntniszuwachs durch den Schmerz gehört. Ähnliche Geschichten von Liebe und Tod oder Scheitern ereignen sich also immer wieder. Humperdincks dritter Akt berichtet davon mit einer wüsten Einöde aus Moll-Flächen und desto wärmenderen Auflichtungen. 

Wie schon am Vorabend in Offenbachs „Doktor Ox“ hört man in Münster eine exzellente Ensembleleistung. Ansichtssache: Henning Ehlert betont mehr die „wagnernahen“ Verdichtungen als die filigranen Nebenstimmen von Humperdincks die Sänger:innen wirkungsvoll tragender Orchesterbehandlung. Anna Schoecks blüht im langen Solo auf dem schrottreifen VW-Bus im Winterakt und vielen, vielen anderen Stellen voll auf. Garrie Davislim hat alles für die lyrischen Piano-Flächen beim Kennenlernen und auch die dramatischen Attacken beim Volksfest in Hellabrunn. Nur im Finale des zweiten Aktes, wenn das Paar zusammengeschlagen wird, zeigt Davislim Verletzlichkeit: Als Sohn aus gutem Haus mit passender Wanderkleidung und auf Schwertspitze getragenem Reisebündel ist er den Fallstricken schnöder Mitmenschen wie der Wirtstochter (feine Kombination von lyrisch und ordinär: Elena Sverdiolaité) schwerlich gewachsen. Johan Hyunbong Choi als Spielmann und Wioletta Hebrowska als Hexe geben ein packendes und fast geheimnisvolles zweites Paar. Was diese beiden verband, bleibt in diesem Opernmärchen rätselhaft. Er akzentuiert mehr die lyrischen als burlesken Akzente der Figur. Auch vokal betont Wioletta Hebrowska die Noblesse einer lebenserfahrenen weisen Frau. Charakterfarben setzen Gregor Dalal als derber Holzhacker und Youn-Seong Shim als vom Hersteller zum Vertreter mit Sortimentskoffer aufgestiegener Besenbinder. Die Figur von dessen Töchterchen wird aufgeteilt in eine kindliches Double der Gänsemagd und eine Scharführerin der „letzten Generation“ (Elisabeth Quick). 

Langer Applaus: Nicht nur Kinder brauchen Märchen. Und Humperdincks Oper ist nach wie vor eine der schönsten Märchenblüten des Musiktheaters überhaupt.

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