Dreimal Kunstfest Weimar, dreimal Novoflot und „Oper #1 – #3“ – vor allem „Oper“ bitte in Anführungszeichen. 2019 erlebten „Die Oper #1 – Am Kreis (Für den Anfang)“ an Weimarer Plätzen, 2020 „Die Oper #2 – In den Seilen (Vom Ende)“ vor und im Deutschen Nationaltheater Weimar ihre Uraufführungen. Beide Teile gelangten Ende August 2021 auch beim Copenhagen Opera Festival zur Aufführung. (Halb-)Rund wurde die Trilogie mit der Uraufführung „Die Oper #3 – Die Outtakes“ im Wimaria-Stadion. Dieses ist sicher nicht der ungewöhnlichste, aber mit Abstand größte Schauplatz in den abenteuerlichen Ortserkundungen des Kunstfests Weimar und die für drei Vorstellungen größte Musiktheater-Erlebniswiese Deutschlands.
Soviel subjektiven Zuschauer-Sport gibt es selten. Die ungefähr 150 Premierenbesucher verstreuen sich auf dem Fußballrasen – „anti-allergen“ und „nachhaltig“ sei dieser. Sie nehmen Platz auf den langen Bankreihen unterhalb des Towers oder gegenüber. Vor und nach dem Einmarsch des Publikums, dem noch weitere Wandelbewegungen folgten, zog der Spielmannszug Mellingen mit Pfeifen und Tschinelle seine Kreise. Die Sportspost ging voll ab. Konsumiert wurde „Bier von hier“.
Die Hauptakteure hielten sich zuerst gut vor ihrem Publikum verborgen. Das Ensemble Novoflot ist bis zum Sonnenuntergang unter all den zum Stück gehörenden Kurzstrecken-Sprintenden, Bolzenden und Leichtathlet*innen kaum auszumachen. Allenfalls die Sportsrhetorik mit ihrem strophenartigen Steigerungsdrive ließ an eine künstlerische Überformung durch Novoflot denken. Schließlich handelt es sich um das „Sportliche Finale der Musiktheater-Trilogie frei nach Monteverdi“.
„Frei nach...?“ Novoflot versprach, in Teil 1 den Erkenntniskern der allerfrühesten Opern freizuschälen und im Teil 2 so etwas wie das synthetische Konstrukt verschollener Monteverdi-Opern vorzustellen. Das geschah allerdings nicht auf Basis realer Notenfunde, sondern wie Novoflot sich vorstellt, dass diese Monteverdi-Schätze dramatisch und musikalisch hätten sein können. Natürlich in der szenischen Vision von Novoflot höchstselbst.
Der Papierform nach stehen jetzt Figuren und Gedanken, welche im Finalisierungsprozess eines großen Kunstwerks gestrichen, eliminiert und ausradiert werden, im Zentrum des hochgeistigen Geschehens. Alles gut geplant: Die Sportler*innen des KSSV verschwanden ungefähr zur halben Spieldauer. Dann saß das Ensemble DissonArt vor Dirigent Vicente Larrañaga unter einer transparenten Wetterschutz-Muschel und machte eine Musik, die sich zwischen jauchzender E-Gitarre, Begleitfragmenten und verstärktem Gesang neben Monteverdi aus Material annähernd aller Epochen bis zur digitalen Revolution nährt.
Durch die Sitzordnung herrschte für das Publikum jetzt Wahrnehmungseintracht. Diese und das Stück endeten mit der Frage, ob Außerirdische aus der Vogelperspektive die Kunstform ‚Spieloper‘ auf der grünen Riesenfläche inmitten einer Großstadt wie Weimar dechiffrieren können. Davor musste sich das Publikum seine Novoflot-Aktivist*innen suchen oder sich mit der Beschallung durch oft fragmentiertes Tonmaterial begnügen: Die Sängerin Rosemary Hardy, die sich von Monteverdi wegwagnerte und zu Monteverdi zurückvokalisiert, beanspruchte ebenfalls ein Sportdress. Ichi Go lässt m Rücken der Anwesenden ein riesiges zitronenfalterndes Plastiklaken über den tauenden Rasen schweben. Veronica Lepekha – welche New-Art-Allrounderin darf das schon? – übernimmt den Dialogpart einer aufstrebenden Jungspitzensportlerin und erhält dafür einen Blumenstrauß. Nicht von Fans, sondern auf Fügung von Sven Holms Konzept-Regie. Bühne (Elisa Limberg) und Kostüme (Nina von Mechow) haben eher pflegende Aufgaben als künstlerische. Reelle Stars dieser 90 Minuten sind die Abendspielleitung (Ella Haid-Schmallenberg und Selina Girschweiler), die das Szenengeflecht aus Sportsgeist und Kunstfertigkeit verzahnen müssen. Vorteil dieser Spielform ist, dass Pannen meistens unbemerkt bleiben und die interaktive Spiellust sogar befeuern könnten.
Antiken-Metaphorik, die zu Homer, Monteverdi und ein bisschen auch die Postmoderne zielt, folgt: Um Odysseus geht’s, den man heute nicht mehr wegen der Sirenen an den Segelmast fesseln müsste. Diese Kannibalinnen mit langem Gesangsatem verlieren in der philosophisch-digitalen Aufstellung postmoderner Engel und Sirenen ihre physische Gefährlichkeit. Endlich kommt Novoflot schließlich an bei der alt-„chinesischen Musikfolter“ durch zur Verfügung stehende Ensembles. Eine solche Pointe zündet mehr als die meisten vorausgegangenen. Denn diese vertröpfelten in den gigantischen Raumdimensionen auch deshalb, weil von Augen, Ohren und Beinen der Besucherströme permanentes Multitasking gefordert war.
Das 2002 gegründete Opernkollektiv kommt offenbar aus den Flegeljahren ins Champagneralter. In „Die Oper #3“ dürfen andere – hier der regionale Sportverein – die wahre Körperarbeit machen. Dass man vieles erlebt außer das im Konzepttext versprochene, ist inzwischen Mainstream avancierter Performance-Macher. Möge die Macht der Klassikerstadt-Schutzheiligen Wimaria, deren fünf Jahre vor der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten 1938 Sportstätte für maximal 11.000 Stehplätze errichtet wurde, über Novoflot sein. Die Verblendung von Monteverdi und des als Spruchlieferant für Sportreporter einsetzbaren Goethe funktioniert nicht ganz, weil neben der Raumfülle auch das Durchstöbern eigenen Basiswissens für die Novoflot-Show ganz schön anstrengend ist. Nach den Bewegungsströmen kamen die Applauswogen und unterlagen knapp der Pop-Beschallung aus Richtung des Schwanseebads.