Ungewöhnliche Wege hatten die Besucher der Premiere zu Monteverdis „Odysseus“ im Darmstädter Staatstheater zu gehen. Unter der neuen Intendanz von Karsten Wiegand forderte Regisseur Jay Scheib das Publikum auf, zu Entdeckern zu werden.
Es war stimmig. Zum Auftakt der neuen Spielsaison am Staatstheater Darmstadt hatte sich der amerikanische Regisseur Jay Scheib etwas Besonderes einfallen lassen. Er setzte Monteverdis „Odyssee“ Luigi Nonos letztes Orchesterstück „No hay caminos, hay que caminar ...Andrej Tarkowsky“ aus dem Jahr 1987 voran und forderte die Zuhörer auf, während des Spiels zwischen den sieben Gruppen des Orchesters auf der unbestuhlten Bühne spazieren zu gehen. „Wanderer, es gibt keine Wege, also gehe“, lautete der Appell des Regisseurs, der die Zuhörer in Situationen warf, die auch Odysseus erlebt haben mochte. Da fühlt man sich im Halbdunkel etwas verloren, stößt hie und da an fremde Ellenbogen, wird angezogen durch mythische Figuren aus der Oper, die sich langsam in das Geschehen einschleichen und rätselt, welcher Klang aus Nonos Werk gerade woher kommt. Dass dabei unter Pumps-Geklapper und Dielen-Knarren der eine oder andere Ton im siebenfachen Piano untergeht und auch ein Teil der überaus dichten Atmosphäre des Werks, muss in Kauf genommen werden. Nahtlos geht Nonos Musik über in die ersten drei Szenen der Oper, hautnah ist das Publikum an Instrumentalisten und Darstellern dran.
Erholsam war freilich, nach 50 Minuten Steh- und Geh-Empfang und der Pause in den auf der Bühne aufgestellten Stuhlreihen Platz nehmen zu dürfen. Was experimentell begonnen hatte, wandelte sich nun, wenn man einmal davon absieht, dass sich Sänger, Orchester und Zuhörer nur in den Tiefen des Bühnenraums mit all ihrer sichtbaren Technik befanden, in eine inszenatorisch nicht unbedingt Überraschendes hervorbringende Szenerie. Auf einer gelbgestrichenen, sich vom Bühnenschwarz schön abhebenden Showtreppe (Bühnenbild: Philip Bußmann) waren die Ankunft Odysseus‘ auf Ithaka, seine Begegnung mit Athene und dem Hirten Eumete, das Wiedersehen mit seinem Sohn Telemach sowie andererseits die leidende Penelope samt den sie bedrängenden Freiern und das glückliche Ende nach dem Bogenkampf zu erleben. Die zeitlich nicht zu verortenden Kostüme der Protagonisten wurden ergänzt durch gefiederte Gewänder der Götter und der Charaktere Zeit, Glück und Liebe (Kostüme: Meentje Nielsen).
Ein Ensemble auf dem Weg vom Neuen zum Alten
Scheib hat die umfassende Partitur Monteverdis sinnvoll zusammengestrichen, viele Dialoge der Götter weggelassen, manche Personen zusammengelegt und andererseits die drei bei Monteverdi vorkommenden Freier zu einem ganzen Männerchor aufgestockt, um die Bedrängung der Penelope deutlicher zu machen. Das gibt ein abwechslungsreicheres Klangbild, bringt mehr Bewegung auf die Bühne und gibt dem von Joachim Enders sorgfältig einstudierten Chor Gelegenheit, die Szenerie schauspielerisch anzureichern. Die Stars des Abends waren aber vor allem die neuen Ensemblemitglieder Katja Stuber als Amor und Athene sowie Mary-Ellen Nesi als Penelope. Katja Stuber, die schon bei ihrem Bayreuther Debüt 2011 Aufmerksamkeit erregte, überzeugte durch ihren klaren und direkten Sopran sowie ihre positive Ausstrahlung. Mary-Ellen Nesi hatte stimmlich einen schwierigen Part zu bewältigen, erreichte aber mühelos die Tiefen und konnte ihren fülligen Mezzosopran schön ausspielen. Auch Bariton David Pichlmaier, seit 2008 am Staatstheater Darmstadt und hier besonders in Wolfgangs Rihms „Lenz“ und als Liedsänger hervorgetreten, passte sich kraftvoll und lebendig als Odysseus in das barocke Klangbild ein. Das verkleinerte, aber durch Langhalslaute, Blocklöte, Gitarre und Gambe angereicherte Orchester des Staatstheaters bewältigte den Sprung von Nonos Werk zur frühbarocken Musik Monteverdis unter der Leitung des Spezialisten für Alte Musik, George Petrou, ganz hervorragend. Abwechslungsreichlich gestaltete Petrou, der auch selbst am Cembalo agierte, die Continuo-Begleitung der vielen Rezitative.
Das Darmstädter Theater hat mit diesem Auftakt unter der neuen Intendanz von Karsten Wiegand eine gute Mischung aus Altem und Neuen, Versuch und Tradition geboten, die vom Publikum freudig entgegen genommen wurde. Sympathisch, dass Wiegand sich während des ganzen Abends um das Wohlergehen seiner Gäste kümmerte, sei es allein durch seine von seinen beiden kleinen Söhnen unterstützte Präsenz, sei es durch Ansagen zur Organisation des Abends oder Handanlegen bei kleinen Aufräumarbeiten. Der Abend machte Lust auf mehr.