Stuttgarts größtes Festival für Neue Musik nennt sich Eclat, hätte aber dieses Jahr auch den Titel „Plädoyer für selbstbewusste Komponistinnen“ tragen können: Als ein solches hatten die künstlerischen Leiterinnen Christine Fischer und Lydia Jeschke das Programm der beiden ersten Tage formuliert. Jung, weiblich, und visuell – das war ein gemeinsamer Tenor, dennoch hätten die acht ersten Konzerte aus weiblicher Feder unterschiedlicher nicht sein können. Einzig der Hang zum Über-Performativen, zum Konzept, kurz zu einer Gehaltsästhetik ganz im Sinne eines Harry Lehmann, war ihnen gemeinsam.
In ihrer hebräisch-englisch übertitelten Lichtspielszene „Or.Towards“, was frei übersetzt „Hin zum Licht“ heißen könnte, ergründete Sarah Nemtsov Mystisch-Kabbalistisches. Sechs Sänger der Neuen Vocalsolisten und Sechs Instrumentalisten des Ensemble ascolta bildeten drei Gruppen, in deren Zentrum das präparierte Klavier stand. Mit einfachsten visuellen Mitteln erzeugten die Sänger große Wirkung, indem sie ihre Noten, ihre Gesichter, aber auch Lichtobjekte in Form von Oktaeder und Dodekaeder in blau, violett und grau anstrahlen.
Ein ruhiger Auftakt, der von stürmischer Musik der spanischen Komponistin Elena Mendoza abgelöst wurde. Sie hatte dem Akkordeonvirtuosen Stefan Hussong das Solostück „Découpé“ auf den Leib geschrieben. In rasender Geschwindigkeit fügte dieser Bruchstücke einer Neuen-Musik-imaginaire in dadaistischer Klangcollage aneinander.
„smudged – a carbon copy“ hätte ein audio-visuelles Instrument werden sollen, so die italienische Komponistin Clara Iannotta. Es konnte aber – wie sie freimütig eingestand – mangels Zeit nicht bis zum Festivaluraufführungstermin fertiggestellt werden. Nun ohne Videozuspielungen, fiel es den Neuen Vocalsolisten zu, aus dem beinahe asketischen Klangmaterial Iannottas eine wirkungsvolle Musik-Performance zu kreieren.
Erstmals war das Hannsmann-Poethen Literaturstipendium der Landeshauptstadt Stuttgart zu Gast bei Eclat. Die Jury hatte zwei Werke ausgewählt, deren Ästhetik wie ein Fremdkörper im Neue-Musik-Festival wirkte, aber dennoch ins performative Konzept des Jahrgangs 2017 passte.
Die polnische Künstlerin Jagoda Szmytka arbeitet eklektisch mit Elementen aus Kunst, Show, Pop und Neuer Musik. Ihr Vaudeville „DIY or DIE“ griff Szenen wie den Fall der Mauer, die Leiden der Millennial-Generation, das Leben in social media oder die Möglichkeit politischer Aktion auf. Ausgangspunkt des Projektes war die Idee des Trompeters Paul Hübner, über das Thema „Aggression“ und über Igor Strawinskys „L‘Histoire du Soldat“ zu arbeiten. Gemeinsam mit der MAM, der manufaktur für aktuelle musik, und dem Tänzer und Choreographen Slawek Bendrat schufen Szmytka und Hübner ein hybrides Musikspektakel, das überwältigte und das mit dem Skandieren der Parole „No boarders, no nations, stop deportation“ im Tagesaktuellen endete.
Weitere ausgezeichnete Stipendiaten waren die Autorin Gerhild Steinbuch und die Künstlerin Philine Rinnert. Sie schickten mit „friendly fire“, einem Live-Hörspiel für Performerin und Kammerensemble“, die phänomenale Katharina Bach auf die Suche nach sich selbst: „Fremd zieh ich wieder einmal aus und nochmal und nochmal … “. Auch hier stammte die Musik von Jagoda Szmytka, das Sounddesign steuerte Paul Hübner bei – sie ließen die Grenzen zwischen Theatermusik und Neuer Musik verschwimmen und in dieser Unschärfe liegt der Reiz ihrer Arbeit.
Tag zwei des Festivals war erneut mit Performance überschrieben. Die Schwedin Hanna Hartmann köchelte auf einem Soundtisch live ein elektroakustisches Hexengebräu und brachte mittels 20-minütiger Permanentatmung das Klanggemisch zum Brodeln. Die anschließende audio-visuelle Installation von Hanna Hartmann aus Frankreich überzeugte vor allem durch das geniale Solo von Theo Nabicht auf der Kontrabassklarinette.
Ein erster Festivalhöhepunkt war das abendfüllende Musiktheater „iScreen, YouScream!“ von Brigitta Muntendorf. Drei Videoleinwände, die Schauspielerin Constanze Passin und das wunderbare Ensemble Garage zelebrierten eine Unterhaltungsshow, die das Banale zur Kunst überhöhte. Während Muntendorf in ihrem Musiktheater das Leben als Posieren in sozialen Medien reflektierte kam der erste (!) Komponist des Festivals, Christoph Ogiermann, mit seinem Stimmspiel „über akustische Standards bei Gewaltanwendungen gegen sich selbst“ auf aktuelle Politik zu sprechen. Die neuen Vocalsolisten hatten die nicht einfache Aufgabe zwischen Schauspiel, Gesang, Stimmkunst und Happening zu bestehen. Dennoch starker Beifall für Ogiermanns musikpolitisches Statement gegen die Auswüchse des Neokolonialismus.
Mehr zu Eclat und zu dem, was die männlichen Kollegen Brice Pauset, Nicolaus A., Mark Baden und Bernhard Gander u.a. zu bieten hatten in der nächsten nmz 3/2017