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Uraufführungen 2023/09

Uraufführungen 2023/09

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Überflüssig?

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Uraufführungen 2023/09
Vorspann / Teaser

In „Espèces d’Espaces“ (Träume von Räumen) unternahm Georges Perec 1974 ein Gedankenexperiment. Der französische Schriftsteller versuchte, sich ein Zimmer in einer Wohnung vorzustellen, das jeder Funktion entbehrt. Es dürfte keine Nische, Abstell- oder Rumpelkammer sein, auch kein Flur, Kabuff, Stellraum, Dachboden oder Wandschrank, kein Raum, der verschieden genutzt, andere Räume irgendwie entlasten und dadurch doch wieder eine Funktion erfüllen würde. Dieses Zimmer wäre nur es selbst, ohne auf irgendetwas anderes zu verweisen, vollkommen überflüssig. Doch Perec bekannte, dass es ihm trotz aller Anstrengung unmöglich gewesen sei, sich ein solches Zimmer vorzustellen, weil die Sprache nicht dafür taugt, einer nichtigen Leere und völligen Funktionslosigkeit einen Namen zu geben. Ist das ein Gleichnis? Und falls ja, für was?

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Also noch ein Experiment: Man denke sich unsere plural ausdifferenzierte Gesellschaft als große Wohnung mit vielen Zimmern. Jedes steht für ein bestimmtes System wie Wirtschaft, Handel, Finanzen, Wissenschaft, Politik, Religion, Moral, Bildung, Soziales, Gesundheit et cetera. Welches Zimmer bekäme dann die Musik? Wäre sie dieser funktionslose, überflüssige Raum, den Perec vergeblich zu denken versuchte? Und gesetzt den Fall, dieser Raum wäre durch Türen und Gänge mit den anderen Zimmern verbunden, wäre er dann tatsächlich nur er selbst, zu nichts nütze und auf nichts anderes als sich selbst bezogen? Oder würde er aufgrund der Durchgänge sowie der Eintretenden nicht im Nu mit all den Interessen, Agenden, Erfahrungen und Erwartungen aus den anderen Zimmern gefüllt? Die Besucherinnen und Besucher wären womöglich allesamt enttäuscht, weil sie entweder nicht einmal in diesem besonderen Zimmer dem sonst überall herrschenden Funktionalismus entkommen könnten, oder weil sie statt der sonst überall gewohnten Eindeutigkeit bloß vieldeutige Verfransungen von Einflüssen aus den anderen Räumen wiedererkennen würden.

Auf Musik und Kunst angewandt, führt Perecs Idee eines überflüssigen Raums mitten in die Widersprüche von ästhetischer Autonomie und Funktionalismus, künstlerischer Freiheit und gesellschaftlichen Interessen. Eine Nische in der Nische von Kunst und Kultur ist die neue Musik. Auch dieses Zimmer der großen Wohngemeinschaft ist mit allen anderen Räumen durch Türen und Gänge mal enger oder ferner verbunden, und sei die neue Musik noch so elaboriert, schwierig, komplex, hermetisch, unverständlich, ungeliebt, unauffindbar, marginal, irrelevant und welche (Vor-)Urteile ihr sonst noch entgegenschlagen. Denn selbst die radikalste Verweigerung, Anderheit oder Utopie ist kein der Lebensrealität enthobenes Wolkenkuckucksheim, sondern Spiegel, Kommentar, Antwort, Kritik, Hoffnung oder Angst derselben. Und wer einen solchen überflüssigen Raum betritt – beispielsweise eine der im September anstehenden Uraufführungen –, wird ihn verändern und selbst verändert verlassen, vielleicht nur minimal, aber immerhin. Denn überflüssig ist schließlich mehr als bloß flüssig!

Weitere Uraufführungen

2.9.: Sven-Ingo Koch, Lieder vom Wasser für Schlagzeug-Solo und zwölfstimmiges Vokalensemble, Maschinenraum Talsperre Alpirsbach/Schwarzwald; Johannes Maria Staud, missing in cantu (eure paläste sind leer), Musiktheater auf einen Text von Thomas Köck, Deutsches Nationaltheater Weimar

3.9.: Francesco Filidei, Cantico delle Creature für Anna Prohaska und Ensemble Modern Orchestra, Musikfest Berlin, Philharmonie

14./15.9.: Márton Illés, Lég-szín-tér (Luft-Farbe-Raum) für Orchester, Wolfgang von Schweinitz, Plainsound Duo „My Persia“ für Violine und Kontrabass mit Viertelton-Skordatur, Musikfest Berlin, Philharmonie

21.9.: Michael Wertmüller, Shlimazl für Bigband und Sinfonieorchester, Ruhrtriennale, Jahrhunderthalle Bochum

24.9.: Michael Pelzel, As if on a Cyborg’s Wedding (TikTok-Music) für Ensemble Musikfabrik, WDR Funkhaus Köln

27.9.: gamut inc (Marion Wörle, Maciej Sledziecki), ZEROTH LAW – eine hybride Landschaft mit dem RIAS Kammerorchester und dem LOGOS Roboterorchester auf ein Libretto von Frank Witzel, Tischlerei der Deutschen Oper Berlin

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