Viktor Ullmann, Paul Hindemith, Ernst Toch – diese drei Komponisten stehen exemplarisch für das gemeinsame Anliegen des Vereins musica reanimata und des Schott-Verlags Mainz, Leben und Werk von den Nationalsozialisten verfemter, verfolgter und vernichteter Künstler zu erforschen und der Öffentlichkeit (wieder) zugänglich zu machen. Im Falle des traditionsreichen Verlagshauses basiert diese Arbeit teils noch auf direkten, ausschließlich wegen der durchschlagenden Qualität ihrer Musik geknüpften Beziehungen zu den jeweiligen Tonsetzern.
So war es naheliegend, wenn auch einer Notsitutation geschuldet, die großen Jubiläen dieses Jahres gemeinsam zu feiern – der Schott-Verlag blickt auf 250 Jahre, musica reanimata, der Förderverein zur Wiederentdeckung NS-verfolgter Komponisten und ihrer Werke, auf 30 Jahre erfolgreicher Tätigkeit zurück. Aufgrund der Pandemie hatte der Schott-Verlag alle groß und glänzend geplanten Veranstaltungen absagen müssen. Die Einladung zum Gesprächskonzert von musica reanimata ins Berliner Konzerthaus konnte da kaum ein kleiner Trost sein, und doch wurde daraus ein aufschlussreicher und bewegender Abend.
Die Folgen der Pandemie für das gesamte Musikleben sind unabsehbar und haben auch den Schott-Verlag auf‘s schwerste getroffen, wie Peter Hanser-Strecker, Verlagsleiter in dritter Generation, im Gespräch mit dem Vereinsgründer und -vorsitzenden Albrecht Dümling erläuterte. Die Situation sei nun schlimmer als in und nach den beiden Weltkriegen, Corona habe unmittelbar vor die Pleite geführt. Dies umso bedrückender angesichts einer ruhmreichen Tradition, die mit dem Druck von Beethovens „Neunter“ und der „Missa solemnis“ begann. Das Gespräch führte von der Tätigkeit des Gründers Bernhard Schott über den kinderlosen Nachfahren Franz, auch Bürgermeister von Mainz, dem die Ansprüche Richard Wagners zusetzten, schnell zu Hanser-Streckers Urgroßvater Ludwig Strecker senior. Dieser übernahm das Verlagshaus 1874 und ''erbte'' nicht nur den schwierigen Tonsetzer, sondern konnte auch Komponisten seines Umfelds, etwa Engelbert Humperdinck, gewinnen. Doch Schwerpunkt waren die 1920er Jahre und die NS-Zeit, als Streckers Söhne Ludwig und Willy das Haus führten.
Mit Ernst Toch begann der Verlag 1923 zusammenzuarbeiten, nachdem der 1887 in Wien geborene jüdische Komponist bereits den Mozart-Preis der Stadt Frankfurt und den Mendelssohn-Preis des preußischen Staates erhalten hatte, mit ersten Streichquartetten und Kammermusikwerken aufgefallen war und mit Paul Hindemith für den Rundfunk gearbeitet hatte. 1925 erhielt er von Schott einen Zehnjahresvertrag. Er reüssierte beim Kammermusikfest Donaueschingen, sein Klavierkonzert wurde von den bedeutendsten Interpreten, darunter Walter Gieseking, aufgeführt. Dümling erinnerte an Erfolge wie die Oper „Egon und Emilie“ nach Christian Morgenstern oder die sehr beliebte „Fuge aus der Geographie“. Bis zu seiner Emigration 1933 wurde er zum meist gespielten Komponisten seiner Zeit – später bezeichnete er sich als den „am gründlichsten vergessenen“. Mit Filmmusiken hielt er sich in Hollywood zunächst über Wasser, weder an frühere kompositorische Höhe noch an seine Erfolge konnte er nach dem Krieg wieder anknüpfen, auch wenn er für seine 3. Sinfonie den Pulitzer-Preis erhielt. Mit dem ironisch-virtuos wirbelnden „Jongleur“ aus den Burlesken op. 21 für Klavier präsentierte Holger Groschopp eine feinziselierte, bildkräftige Musik, die Tochs damalige Beliebtheit nachvollziehbar machte. Vier Lieder auf Gedichte von Christian Morgenstern und Wilhelm Busch op. 41 aus dem Jahre 1928, textverständlich und ausdrucksvoll gesungen von Anna Maria Pammer, zeigen den Komponisten auf der Höhe plastisch-differenzierter Wortausdeutungskunst, in verknappter und transparenter, harmonisch flexibler Satztechnik umso eindringlicher. Nachvollziehbar wurde, dass Toch wie Ernst Krenek oder Erich Wolfgang Korngold – deren Begabung ebenfalls im Hollywood-Exil versickerte – als Opernkomponist erfolgreich war, kraft einer originellen, die Romantik überwindenden und doch eingängigen Modernität.
Von Paul Hindemith erklang an diesem Abend die Sonate für Oboe und Klavier, gespielt von Viola Willmsen und Holger Groschopp, reizvoll durch die Spannung zwischen pastoraler Melodik und eigenwilligen Rhythmen, mit einem virtuosen dreistimmigen Fugato auftrumpfend. Wenige Wochen nach der Uraufführung am 20. Juli 1938 verließ Hindemith Deutschland. Schon durch Werke wie „Mörder, Hoffnung der Frauen“ auf ein Libretto von Oskar Kokoschka oder die 1922 in Donaueschingen uraufgeführte „Kammermusik Nr. 1“ hatte sich der junge Komponist den Ruf eines „Bürgerschrecks“ erworben. In der Ausstellung „Entartete Musik“ von 1938 (die in Albrecht Dümlings kommentierter Rekonstruktion seit 1988 in mehr als 70 Städten, darunter in Israel und den USA, zu sehen war) wurde Hindemith vollends als „wurzelloser Scharlatan“ und „Theoretiker der Atonalität“ verunglimpft. Auch er „wählte“, nachdem ihn auch Wilhelm Furtwänglers Fürsprache und sein Wirken für den Aufbau des Konservatoriums Ankara nicht vor Angriffen und Aufführungsverboten schützen konnte, das USA-Exil. Der Schott-Verlag konnte nicht viel dagegen tun, dass ihm eine hochbegabte Musikergeneration verloren ging, die das Projekt Moderne zwischen Expressionismus und Neoklassizismus auf etwas andere Wege führte als die viel unzugänglichere Avantgarde. Erich Wolfgang Korngold, Fritz Kreisler, Karl Amadeus Hartmann hatten erfolgreich mit den Mainzern zusammengearbeitet, hier Grundsteine ihrer Karriere gelegt. Wie konnte man im Einzelfall überhaupt helfen? Ludwig Strecker jun. musste den Vertrag mit Ernst Toch 1933 lösen. Tantiemen zu zahlen war nicht erlaubt, allenfalls konnte man Gutschriften für die nun unverkäuflichen Ausgaben des „Jongleurs“ ausstellen. Hindemith, den mit Willy Strecker eine langjährige Freundschaft verband, wurde so lange wie möglich unterstützt. „Und Frau Reimann schickte Schokoladepakete“, meinte Peter Hanser-Strecker. „Viel mehr konnte man nicht tun“. Dümlings Fragen, wie man in diesen Zeiten überhaupt das Geschäft weiterführen konnte, beantwortete er ein wenig ausweichend: „Natürlich musste man die Belegschaft jeden Morgen mit dem Hitlergruß auf den Tag einstimmen. Mein Großvater hatte dann meistens die Pfeife im Mund oder die rechte Hand am Türknauf.“ Ganz so harmlos, mit der gehörigen Chuzpe zu bewältigen wird es nicht gewesen sein. Die Rede war jedoch auch von den Märschen und Volksliedern, die ab 1934 zunehmend bei Schott gedruckt wurden, um vom wirtschaftlichen Aufschwung zu profitieren. Neben einem weitverbreiteten 'Soldatenliederbuch' erschien 1941 bei Schott eine 'Siegesfanfare' frei nach „Les Préludes“ von Franz Liszt – das Anfangsmotiv dieser Sinfonischen Dichtung leitete die Siegesmeldungen im Großdeutschen Rundfunk ein. Dafür weigerte sich Ludwig Strecker, am Russlandfeldzug teilzunehmen, und die Noten der verfemten Autoren wurden heimlich nachts gedruckt. Zwischen „Anpassungsdruck und Selbstbehauptung“ beschreibt Albrecht Dümling dieses scheinbar widersprüchliche Verhalten in seinem gleichnamigen Buch über den Schott-Verlag, das damals wohl vielen als der einzige Ausweg erschien.
Für Viktor Ullmann gab es keinen Ausweg: Der 1898 im österreich-ungarischen Teschen geborene jüdische Komponist wurde 1942 ins Ghetto Theresienstadt deportiert, zwei Jahre später von dort nach Auschwitz verbracht und kurz nach seiner Ankunft ermordet. Kaum fassbar, dass Ullmann selbst das Lager als „Schule der Form“ bezeichnete, durch die er in seiner musikalischen Arbeit gefördert und keineswegs gehemmt worden sei. Hanser-Strecker berichtete, wie schwierig allein es war, die Aufführungsrechte für die Werke zu erhalten, die auf Packpapier notiert in einer Kiste versteckt vom Theresienstädter Bibliothekar Emil Utitz gerettet wurden. Ullmanns Kinder, auf einem Kindertransport nach England verschickt und dort frühzeitig adoptiert und teils entmündigt, kamen als Rechtsnachfolger nicht infrage. Später konnte Hanser-Strecker mit der von ihm gegründeten und nach der zweiten Frau seines Großvaters benannten Maria Strecker-Daelen-Stiftung „pro musica viva“ viel zur Wiederbelebung der Werke NS-verfolgter Komponisten beitragen – Maria Strecker-Daelen hatte als Ärztin viele Künstler vor der drohenden Einberufung zum Kriegsdienst bewahrt. Der Verein „musica reanimata“, der seinerseits die Initiative zu seiner Gründung der Berliner Aufführung von Ullmanns Oper „Der Kaiser von Atlantis“ im Jahre 1990 verdankt, wurde durch diese Stiftung in vielen Veranstaltungen und seiner Schriftenreihe mannigfach gefördert. Wie lohnend die Arbeit beider Institutionen ist, wie schmerzhaft auch die kulturellen Verluste durch das Naziregime immer wieder fühlbar sind, wurde anhand der beeindruckenden Aussagekraft von Ullmanns 6. Klaviersonate und seiner „Abendphantasie“ nach Friedrich Hölderlin, beide Werke von 1943, klingend erlebbar.
Siehe auch: Albrecht Dümling: Anpassungsdruck und Selbstbehauptung - Der Schott-Verlag im ‚Dritten Reich‘, ConBrio 2020, 19,90.