Die existentielle Erfahrung von Natur ist ein zentraler Aspekt der Musik von Toshio Hosokawa, was sich keineswegs erschöpft in der Transformation konkreten Naturlauts, wie sie Wasser, Wind oder Zikadengesang auf dem spirituellen Terrain japanischer Landschaft anbieten. Hosokawas Auffassung von Natur ist von seinem Verständnis von Klang nicht zu trennen und tief verwurzelt in asiatischen Denktraditionen, die das Irdische und das Spirituelle als eine komplementäre Einheit verstehen, die von permanenten Prozessen des Werdens und Vergehens bestimmt wird.
Auch die gewaltigen, destruktiven Kräfte der Natur gehören hierher, wovon Hosokawas Geburtsland ein trauriges Lied singen kann. Dass das Verhältnis von Mensch und Natur, ob in Ost und oder West, längst ein Entfremdetes geworden ist, welches sich gegenwärtig in galoppierender Umweltzerstörung und Zunahme hausgemachter „Naturkatastrophen“ manifestiert, weiß auch Toshio Hosokawa, der diese gestörte Beziehung auch in seiner Musik zunehmend beklagt. Ein einschneidendes Erlebnis für den Komponisten markierte die Katastrophe von Fukushima, die Hosokawa bereits in seiner vorhergehenden Oper „Stilles Meer“ (2016) thematisierte. In „Erdbeben. Träume“ geht es nun erneut um eine posttraumatische Situation, bei der willkürliche Naturgewalt und gefährliches „Menschenwerk“ sich zu einem Unglück verdichten, wo alles Menschliche aus den Fugen gerät. Die zugrunde liegende literarische Vorlage, Kleists „Das Erdbeben in Chili“, wurde schon öfter als Musiktheater-Stoff bemüht (unter anderem von Awet Terterjan und Dieter Schnebel), in der konzentrierten Adaption von Marcel Beyer aber wohl noch nie so eindringlich auf die Opernbühne gebracht wie jetzt in Stuttgart, als „Abschiedsvorstellung“ eines der fruchtbarsten Regie-Duos auf deutschen Bühnen (Jossi Wieler beendet seine Intendanz, Sergio Morabito geht an die Wiener Oper).
Kleists Erzählung über eine geächtete Liebesbeziehung, die zum gesellschaftlichen Unheilbringer gebrandmarkt wird, nimmt die Naturkatastrophe als Auslöser niederer kollektiver Instinkte, die zu entfesselter Gewalt an Unschuldigen führt. Sie hat ein erschütterndes Äquivalent in der japanischen Geschichte, wo nach dem verheerenden Kanto-Beben von 1923 tausende Koreaner und linksgerichtete Arbeiter als vermeintliche Brandstifter auf offener Straße ermordet wurden. Hosokawa und Beyer verwandeln Kleists zeitlose Zivilisations-Katastrophe in eine ortlose Traum(a)erzählung, die in 18 Szenen/Bildern aus der Perspektive eines sprachlosen Kindes zurückblickt aufs Geschehen, ein Geschehen, das als morbide Zwischenwelt aus Traum und Realität, Vergangenheit und Gegenwart nie ganz greifbar ist und wie die meisten bisherigen Bühnen-Arbeiten Hosokawas von Aspekten des No-Theaters beeinflusst ist. Als szenische Vermittlungsinstanz zwischen den Sphären fungierte die komplett stumme Hauptpartie des Adoptivkindes Philipp, dessen Beobachtungen, Kommentare und Reaktionen von Schauspielerin Sachiko Hara mit bezwingender Intensität vermittelt wurden. Gerade weil deren Körpersprache auf eine eher implosive Darstellung aus war, folgte man gebannt den Erinnerungsspuren in ambivalent zwischen surrealer und realistischer Aura oszillierenden Bildern von Liebe, Gewalt und Tod, individuellem (Mit)Leid und kollektiver Verunsicherung, die schließlich in die pure Barbarei mündet. Die atmosphärische Eindringlichkeit des Ganzen (Bühne und Kostüme wie gehabt: Anna Viebrock; sehr eindrucksvolles Licht: Reinhard Traub) lag sicher nicht wenig darin begründet, dass das komplette Produktionsteam auf Anregung des Komponisten Fukushima besuchte, um sich vor Ort ein Bild des Grauens zu machen. Bühnentechnisch fand das seinen Niederschlag in einer postapokalyptischen Betontrümmer-Welt, in deren grauer Versehrtheit die Menschen zumeist in quälender Zeitlupe agierten, was einerseits die Traumverlorenheit des Geschehens unterstrich, andererseits eine ganz real wirkende Hilflosigkeit und Ohnmacht vermittelte. Jossi Wieler und Sergio Morabito fanden in ihrer letzten Stuttgarter Produktion in der Reibung von stummer Hauptfigur und bewegter Szene viele eindringliche Bilder und vielschichtige Personenkonstellationen. Dabei überfrachteten sie die Szene nicht mit offensichtlichen Zeitbezügen und dennoch waren die drängenden Themen dieser Kleist-Adaption in jedem Moment unverkennbar. Die Verführbarkeit der Masse, die wieder wie ein unwirkliches Damoklesschwert über Deutschland und Europa schwebt, wurde von der Regie dankbar aufgegriffen.
Auch musikalisch ließ diese Premiere kaum Wünsche offen. Sylvain Cambreling hatte das Staatsorchester Stuttgart (durch Mark Andres „Wunderzaichen“ bestens präpariert fürs Mikroskopische) hörbar gut eingeschworen auf Hosokawas feine mikrotonale, geräuschhafte und dynamische Schattierungen, die tief in den Einzelton hineintauchen und teils auch per Lautsprecher das Publikum umgaben als befände man sich mitten in tropfenden Ruinen.
Im Rahmen einer nie nachlassenden, unheilvoll schwelenden Spannung bebte es dann auch gelegentlich, aber konsequent gewaltig, nicht nur in manch wuchtigen Schlagzeugpartien, besonders intensiv in drei großen „Orchestermonologen“, die als musikdramatische Scharnierstellen fungierten. Eine bemerkenswerte Intensität vermittelten auch die Gesangspartien, die reichlich Gelegenheit bekamen, tatsächlich zu Singen und in weiten melancholischen Legato-Bögen über Hosokawas nervös flackerndem Klang-Gewebe schwebten: Der Verzweiflung des gemordeten Liebespaares Josephe und Jeronimo gaben Esther Dierkes und Dominic Große unmittelbare Dringlichkeit, auch Elvire (Sophie Marilley) und Fernando (André Morsch) fanden als spätere Adoptiveltern von stillen Beobachtern zu eindrucksvoller Empathie. Sehr beeindruckend in Stuttgart – wieder einmal – der Chor, der als mächtiger Block oder aufgefächert in ein vielschichtiges Bühnengeschehen die vielen Gesichter der Masse zwischen verstörten Individuen, entfesseltem Mob und versehrten Opfern eindrucksvoll verkörperte und dabei viele Register vokaler Artikulation ziehen konnte. Er hatte „Erdbeben. Träume“ mit elementaren Atemgeräuschen begonnen, am Ende war es dann allein die Natur, die noch atmete und als instrumentales Windgeräusch diese abgrundtief pessimistische Oper beschloss, die Menschen waren fort oder vielleicht schon immer einfach nur Gespenster.