Eine immense Steigerung gegenüber dem „Rheingold“ offenbarte Dirigent Marek Janowski bereits beim Vorspiel. Die Intensität der szenischen Leistungen des Sängerensembles ist in diesem Jahr enorm gewachsen durch intensive Nacharbeit Frank Castorfs an seiner Inszenierung.
Die diskontinuierliche Erzählung der „Ring“-Handlung, Castorfs historischer Sprung um ein knappes Jahrhundert zurück, nach Baku, schien im Premierenjahr 2013 besonders gewöhnungsbedürftig. Und da es sich bei Castorfs szenischer Umsetzung um ein Remake aus dem Schauspiel (seine Berliner Inszenierung von Anton Tschechows „Das Duell“) handelt, besaß dieser Teil von Anfang an nur wenige auf den spezifischen Duktus von Wagners Musik- und Textabfolge bezogene szenische Momente, weniger auch als der Vorabend, „Das Rheingold“. Die Statik im Spiel war gleichwohl Grund dafür, dass die Inszenierung der „Walküre“ von konservativen Wagnerianern eher akzeptiert wurde als die übrigen Teile der Tetralogie in Frank Castorfs Neuinszenierung des Jahres 2013. Nun hat der Regisseur, der erstmals selbst mit einer Reihe inzwischen neu engagierter Sänger-DarstellerInnen intensiv gearbeitet hat, deutliche Modifizierungen angebracht – und so ist aus der „Walküre“ ein zwar nicht immer stimmiger, aber rundum faszinierender Musiktheater-Abend geworden.
Kurioserweise wird dies auch noch entscheidend unterstützt durch Marek Janowski, der für diese Partitur eine eigene, dramatisch packende Lesart einbringt, mit starker Basslastigkeit und teilweise noch nie so extrem gehörten Forte-Momenten, insbesondere der Pauken. Die Vor- und Zwischenspiele gelingen dem erklärten Befürworter konzertanter Wagner-Aufführungen dabei am besten, hier vermag er das Primat der Musik für sich zu behaupten.
Gleichwohl gibt es immer wieder erhebliche Schwankungen zwischen dem bestens disponierten Festspielorchester und den SolistInnen auf der Bühne. Im dritten Aufzug schlägt ein Bohrhammer, mit rotem Wimpel der Revolution an der Spitze, bis in den Orchestergraben – exakt jene Stelle anvisierend, wo der unsichtbare Dirigent zu vermuten ist; ein Schelm, der Böses dabei denkt!
Selbst das Truthahnpaar im ersten Aufzug scheint in diesem Sommer angesteckt von der Aktivität der Protagonisten und der aufgeregten Stimmung im Orchester. Stark verändert ist das dramatische Geschehen insbesondere durch einige Neubesetzungen. Und auch Aleksandar Denićs Bühnenbild weist einige Modifikationen auf. So erschweren auf dem Bühnenboden erstarrte (Eis?-)Flüsse aus der Fabikationshalle das Laufen der Protagonisten, bis Brünnhilde einen Teppich darüber ausbreitet (– im spätzaristischen Russland sollen die Arbeiter erleben, dass sich die herrschende Klasse ihre Füße nicht beschmutzt). Eine Ecke der Drehbühnen-Topografie ist angefüllt mit gelesenen Seiten der Prawda sowie einer Matratze, auf der sich Sieglinde ausruht und beim politischen Shitstorm der Zeitungen von deren Blättern fast bedeckt wird. Ebenfalls in dieser Ecke steht noch immer jenes unnötige und inzwischen überflüssige Fahrrad, auf das sich die Vorgänger-Besetzung des Siegmund gestützt hatte.
Camilla Nylund als Sieglinde setzt ihr klangschönes Organ trefflich ein und ist dabei eine von Anfang an fesselnde Darstellerin. Sie arrangiert kraftvoll die archaisierende Sitzmöbel-Landschaft aus Heuballen neu, auch als eine den fremden Neuankömmling Siegmund verbergende Mauer. Die Zubereitung des betäubenden Schlaftrunks für ihren Gemahl Hunding spielt sie für die schwarzweiße Live-Stummfilm-Projektion: mit großen, aussagekräftig rollenden Augen zieht sie eine Ampulle aus ihrem Ausschnitt und verrührt den Inhalt in einem Wasserglas. Wenn Siegmund das Schwert nunmehr sichtbar aus dem Stumpf der Esche zieht, schreit sie vor Begeisterung auf, wie man dies seit Leonie Rysaneks Gestaltung nicht mehr so sinnlich erlebt hat. In der Wahnsinnsszene des zweiten Aufzugs tigert sie permanent zirkulierend durch das Innere eines hölzernen Zylinders.
Wotan, ein aristokratischer Grundbesitzer mit kahlem Schädel und einem langen grauen Bart, weist seine Arbeiter strikt an und erweist sich als ein Kinoliebhaber, der sich den (auch schon in den Vorjahren eingesetzten) die Anfänge der Entstehung des Öls, und damit seines Reichtums in seiner Kathedrale der Ölgewinnung, als stummen Schwarzweißspielfilm vorführen lässt. Angesichts der überbordenden Revolutions-Ereignisse hatte sich Wotan bislang zwischen zwei Szenen seinen langen Vollbart scheren lassen: jetzt reißt er sich diesen während seines Monologes sichtbar selbst ab: ein Brecht’scher Verfremdungseffekt. John Lundgren, der diese Partie hinreißend singt, integriert auch witzige Momente in seine Darstellung.
Mächtig an Spannung gewonnen hat der Auftritt der Fricka durch die Besetzung mit Tanja Ariane Baumgartner. Die von Wagner als Geisel schwingend apostrophierte Gemahlin Wotans wird – wie im ersten Jahr dieser Inszenierung – nun erneut von einem Leibeigenen getragen, den sie auspeitscht. Baumgartners stimmlich differenziert gestaltete Rollengestaltung dieser Partie spitzt sich weiter zu, als eine der zahlreichen Geliebten Wotans, von denen sonst nur berichtet wird, hier im buchstäblich falschen Augenblick leibhaftig auf die Szene kommt, nachdem im ersten Aufzug bereits als eine Parallelhandlung in Live-Videosequenzen Wotans Telefon-Beziehung mit der offenbar von ihm Schwangeren, Sahnetorte schlingenden Unbekannten zu erleben war.
Catherine Foster gestaltet die „Walküren“-Brünnhilde in diesem Sommer mit größerer Souveränität. Die Tochter Wotans tobt, wie ihr Vater, wenn sie ihren Willen einmal nicht durchsetzen kann und packt nach der Strafpredigt Wotans ihren Koffer. Dabei färbt sie, in Einklang mit der bearbeiteten Personenführung, die junge Walküre nicht mehr so jugendlich wie in den Vorjahren. Statt eines Speers greift sie zur Schaufel, um Siegmund damit abzuhalten, Sieglinde und den noch ungeborenen Siegfried mit seinem Schwert zu töten. Das Walkürenensemble ist homogen besetzt, es integriert auch hochkarätige Besetzungen der anderen „Ring“-Abende (Nadine Weissmann), bietet aber auch vergleichsweise fragwürdigere Einzelleistungen.
Immer wieder überlagern sich die historischen Film-Projektionen einer anderen Handlung mit jenen des Musikdramas, schaffen im Betrachter eine zusätzliche Nervenanspannung, wenn nicht Überforderung. Der historische Film wird unterschnitten mit Nahaufnahmen von Siegmund und Hunding, den Georg Zeppenfeld mit voluminösem Bass verkörpert. Castorf-Assistent Patric Seibert spielt einen flüchtigen Revolutionär, der sich im Käfig der in der Handlung des 3. Aufzuges offenbar bereits geschlachteten Truthähne versteckt; sein historisches Double im Film wird später mittels Eisenschere aus dem zum Gefängnis gewordenen Unterschlupf befreit. Dass die Handlung dann im Baku des Jahres 1942 angekommen ist, dies können – trotz kyrillischer Buchstaben und aserbaidschanischer Sprache – alle Zuschauer entziffern, zumal es wiederholt im Film eingeblendet wird. 1.200 Tonnen Öl, mittels einer Zündschnur zur Explosion gebracht, konterkarieren den starken Abschied zwischen Vater und Tochter.
Der Applaus des Premierenpublikums ist extrem lange, heftig und ungeteilt für alle an diesem Abend aufgebotenen SolistInnen. Selbst wenn diese nur bis Ende des zweiten Aufzugs beschäftigt sind, wie Siegmund und Fricka, haben sie es sich nicht nehmen lassen, auch beim Schlussapplaus den Dank des Publikums nochmals für sich zu verbuchen.
Kurios – wenn auch aufgrund von Castorfs deutlicher Weiterarbeit an dieser Inszenierung und der Intensivierung seiner Personenführung nachvollziehbar –, dass „Die Walküre“ als einziger „Ring“-Abend auch noch im nächsten Festspielsommer auf dem Programm stehen wird. Die quasi nachgeholte dreimalige Einzelaufführung im Rahmen der früher alljährlichen, geschlossenen Gewerkschaftsvorstellungen wird Placido Domingo dirigieren.
Weitere Aufführungen: 9. und 24. August 2017.