Auch Kammermusiker brauchen, von Zeit zu Zeit, frische Luft. Dann verlassen sie stickige Säle und begeben sich in die freie Natur. Wie jetzt bei den Tagen für neue Kammermusik in Witten. Die äußeren Bedingungen waren ideal. Der Kohlenpott ist Vergangenheit. Strahlender Frühlingssonnenschein. Ruhig strömt der von schmutzigen Industrieabwässern befreite Ruhr-Fluss zwischen Witten-Stadt und den dicht bewaldeten Ardey-Hügeln dahin. Öffnet sich weit in den aufgestauten Kemnader See. Wenn man nicht wüsste, wo man sich befindet, könnte man denken, man weilte im grünen Frankreich, in der Franche-Comté am Doubs-Fluss. Bad Witten – warum eigentlich nicht?
Wo aber findet die Musik ihren Platz? „Natur und Kunst, sie scheinen sich zu fliehen“, dichtete einmal Goethe. Aber er korrigierte seine Vermutung schon eine Zeile später. „Und haben sich, eh man es denkt, gefunden“. Die Wittener Musiktage fanden den Komponisten und Aktionskünstler Manos Tsangaris. Er hat schon oft gezeigt, wie man Kunst erfindet und mit einer ungewohnten Ambiance verbindet. In die Natur entlassen, fand er rasch die Lösung: Der Zuschauer-/Zuhörerraum wird in Bewegung gesetzt und zieht gemächlich an den künstlerischen Aktionen vorbei. MS Schwalbe II heißt das Ausflugsschiff, das im Sommerhalbjahr Feriengäste und Einheimische auf der Ruhr spazieren fährt. Diesmal aber sitzen in sechs Fahrten Neue-Musik-Freaks auf dem Oberdeck, setzen sich Kopfhörer auf, um die akustischen Signale zu erfahren. Auch die Optik spielt mit. Am Ufer läuft ein Jogger neben dem Schiff her, eine alte Dame mit Hündchen im Korb radelt über Wiesen und Wege, ein Hornist grüßt vom anderen Ufer, ein Akteur mit Donnerblechen stakst ins Wasser, ständig ist etwas zu erblicken. „Beiläufige Stücke: Schwalbe“ nennt Tsangaris seinen „Hörfilm“ für Sopran/Sprecherin, Bariton/Sprecher, Jogger, Horn, Schlagzeug, Laiendarsteller am Ufer und Publikum in Bewegung per Schiff. Die Sprecherin raunt einen „inneren Monolog“ in die Kopfhörer und großen Lautsprecher: „Ich, die Landschaft, Schwalbe, alles faltet sich heraus…“ – dann gleitet die „Schwalbe“ hinaus in den großen See, dreimal ertönt das große Nebelhorn, der Hornbläser auf dem Achterdeck „antwortet“ mit seinem Instrument. Eine zarte Melancholie liegt über allem. Die Menschen an den Ufern, die sensibel gesetzten Klänge, die Landschaftsimpressionen, das unablässige sanfte Rauschen des Flusses unter dem Schiff, alles verschmilzt zu einem wunderbaren poetischen „Hörfilm“, den man träumerisch verdämmernd genießen kann, aber auch als Wahrnehmungsübung nutzen könnte. Tsangaris hält alles in schwebender Balance.
Die musikalisch-klangliche Erkundung des Ruhr-Flusses wurde auch an anderer Stelle, bei der Schleuse Herbede und der Burgruine Hardenstein fortgesetzt. „Querströmung“ nannte Daniel Ott seine Klangaktion für eine Ruhrlandschaft mit Wasserfall, fünf Schlagzeuger, zwei E-Gitarren und Tonband. In das akustisch verstärkte Rauschen des Wassers dringen vom Tonband die Produktionsgeräusche eines nahen Stahlwerks ein. Der Fluss wird zum Klangmaterial-Lieferanten. Peter Ablinger konstruiert auf einer Wiese am Ufer aus Wäschestangen, Wäscheleinen und großen Leinentüchern einen Gehörgang, eine Art künstliches Innenohr. Aus nassen Lappen tropft Wasser auf eine gläserne Röhrenkonstruktion, die Tropfgeräusche werden über große Lautsprecher zum Fluss hin abgestrahlt. In den Fluss selbst verlegt Stephan Froleyks seine konzertante Klanginstallation mit dem Titel „rauschen angeln“. Junge „Anglerinnen“ senken an langen Stangen aufgehängte und wasserdicht verpackte Lautsprecher ins Wasser, wenn sie die Lautsprecher herausheben, erklingen elektronisch verstärkte Alltagsgeräusche aus der Umgebung oder auch verfremdete Instrumentalgeräusche von Akkordeon und Violoncello. Eine kleine poetische Klangspielerei, fein erdacht. Weiträumiger dagegen Kirsten Reeses „Vexierklang Hardenstein“ am anderen Ufer: Die düstere Burgruine umstellen Lautsprecher, aus denen Wehrrauschen ertönt, das Sprachraunen einer alten Sage, Tierlaute, Windgeräusche: Eine Klanginstallation, die eine grauslige Geschichte aus alten Zeiten zu erzählen scheint, als die Burg noch vom Fluss umspült war.
Dichter am Fluss als heute lag einst auch das heutige Haus Witten. Daniel Ott schuf als Pendant zu seiner „Querströmung“ im Haus Witten ein „Querformat“, eine Raumkomposition für ein Ölgemälde mit Ruhrlandschaft aus dem frühen 18. Jahrhundert. Auch hier wieder das Rauschen des Wassers als Grundklang, in den sich prägnante Klanggestalten von Bassklarinette und Baritonsaxophon einfügen. Eine Art Beschwörung der Vergangenheit, die in den Mauern des Hauses weiter zu klingen schien. Allen Beiträgen zu dieser „Ruhr-Musik“ darf man bescheinigen, dass sie über das Phantasievoll-Spielerische, auch Verspielte hinaus, die Erinnerung an die reiche Geschichte und einstige Bedeutung der Ruhrlandschaft und des Ruhrflusses weckten. Ein bisschen Sentimentalität durfte dabei ruhig aufkommen, ohne dass man sich wünschen möchte, die Ruhr möge wieder so schmutzig werden wie einstmals.
Der Ausflug ins Freie bringt für die Wittener Musiktage nicht nur eine ästhetische, programmatische Erweiterung, sondern führt auch zu einer wünschenswerten Öffnung zur Stadt und ihrer Bevölkerung. Wie schon vor zwei Jahren im Freizeitpark Hohenstein wirkten auch diesmal wieder viele Jugendliche aus Vereinen oder der Musikschule bei den einzelnen Veranstaltungen als Helfer, auch als Akteure mit. So etwas verbindet und gibt den Musiktagen eine zusätzliche Legitimation. Dabei darf nicht übersehen werden, dass für ein Festival Neuer Musik unverändert das einzelne Werk im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen muss. In den sechs Konzerten standen 18 Uraufführungen sowie mehrere deutsche Erstaufführungen auf dem Programm.
Besonderes Interesse fand eine neues Werk von Peter Eötvös: „Schiller: energische Schönheit“ – für acht Stimmen, acht Bläser, zwei Schlagzeuger und Akkordeon. Eötvös fand bei der Lektüre von Schillers Briefen „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ zwei Stellen, die ihn besonders fesselten: „Lebe in deinem Jahrhundert, aber sey nicht sein Geschöpf, leiste deinen Zeitgenossen, aber was sie bedürfen, nicht was sie loben“. Und das zweite Zitat: „Der Künstler ist zwar der Sohn seiner Zeit, aber schlimm für ihn, wenn er zugleich ihr Zögling oder gar noch ihr Günstling ist“. Schillers Text empfand der Komponist so klar, präzise und stringent, dass er seine Vertonung ebenso deutlich und zwingend anlegen wollte. Die ausgewählten Passagen aus dem 16., 9., 4. und 3. Brief der Horen von 1795 werden mit aller Ausführlichkeit und Deutlichkeit gesungen. Der Gestus einer öffentlichen Rede dominiert, die Aufführung nahm geradezu Appellcharakter an. Dazu gehörte auch die Aufstellung: die acht Sänger (hervorragend die Schola Heidelberg unter Walter Nussbaum) und die acht Bläser (aus dem Ensemble Modern) bilden einen Kreis (siehe unser Foto auf dieser Seite), die beiden Schlagzeuger stehen seitlich, sie markieren vor allem die Einsätze der Sänger und Spieler, das Akkordeon (Stefan Husson) stellt, elektronisch verstärkt, eine Art Klangraum für die Aufführung her. Einen Dirigenten gibt es nicht. Das ist von Eötvös bewusst erdacht und gestaltet, sein persönliches Engagement für Schillers Forderungen immer spürbar. Gleichwohl beschleichen einen während der knapp 20 Minuten währenden Aufführung auch leise Einwände. Der Rückgriff auf Schiller wirkt irgendwie, ja wie? Ein Stück Bildungstheater vielleicht. Der Künstler heute, oft genug „Günstling“ oder Party-Dekor fürs gehobene Publikum, kann sich dem „Loben“ am einfachsten durch ein radikales Werk entziehen. Ohne Schiller-Rückgriff. Wobei man heute oft den Eindruck gewinnt, dass unsere „Zeit“ überhaupt kein „Bedürfnis“ nach Kunstwerken zeigt. Schillers Ansicht wirkt da aus unserer Sicht schon etwas gutgläubig.
Auffallend viele gestandene ältere Komponisten waren diesmal in Witten mit meist neuen Werken präsent: Hans Zender, Rudolf Kelterborn, Heinz Holliger, Harrisson Birtwistle, Helmut Lachenmann. Zender übersetzt in „Issei no kyo“, dem Gesang in einem Ton, ein Haiku in vier verschiedene Sprachen, wodurch die eigentlich gleich langen Stücke immer wieder einen neuen Gestus, einen veränderten Charakter erhalten. Die Sopranistin Claron McFadden, Dietmar Wiesner auf der Piccoloflöte und das Ensemble Modern unter Johannes Kalitzke balancierten förmlich auf den vier Strophen, wechselten virtuos zwischen den Ausdruckscharakteren, betrieben eine Art Spaltung des „einen Tons“. In Witten wurde die lineare Fassung des Werkes uraufgeführt. Sie dauert nur halb so lang wie die andere Version, wirkt äußerst konzentriert und ungemein theatralisch.
Harry Vogt, der künstlerische Leiter der Wittener Kammermusiktage, versteht es immer wieder, thematische Leitlinien in seine Programmgestaltungen einzuziehen, gleichsam als roten Faden. Diesmal hieß das Stich-und Reizwort: Spaltung. Vogt zitiert Jean Paul: „Der Mensch ist nie allein…“. Im Ich existiert immer noch ein zweites Ich. Nietzsche, Freud, Paul Valéry werden als Zeugen zitiert. Man könnte auch noch Nestroys Holofernes heranziehen: „Mal sehen wer stärker ist – Ich oder Ich!“ Das ist wenigstens komisch. Nicht komisch ist Rebecca Saunders „Neither“ für zwei Doppeltrichter-Trompeten (siehe das Foto auf Seite 1). Marco Blaauw und Markus Schwind führen einen verhaltenen Dialog, Linien steigen auf und verschwinden wieder. Es will scheinen, dass jeder der beiden für sich allein spielt. Das Duo wirkt wie gespalten. Bei Stefano Gervasoni erscheint das Gespaltene schon im Titel seines Doppelzyklus auf Angelus Silesius’ „Cherubinischen Wandersmann“ von 1675: „Dir – In Dir“. Gervasoni, dem in Witten so etwas wie die Rolle eines „Composer in residence“ zufiel, versenkt sich sehr feinfühlig in den Ernst der Vorlage. Dem Vokalensemble Exaudi unter James Weeks und dem Streichsextett L’Instant Donné war eine eindringliche Wiedergabe zu danken.
In einem Porträtkonzert waren von Gervasoni vier Werke als deutsche Erstaufführungen zu hören. „Masques et Berg“, drei Duette für Violine und Viola, ein virtuoses Zitatenstück. Dann „Phanes“ für Flöte solo (brillant Cédric Julion), zwei Bearbeitungen von Bach-Inventionen für Violine/Viola und Piccolo/Bassflöte, die etwas belanglos wirkten, und „Tornasole“ für zwei Bratschen und Bassflöte, leicht und transparent komponiert. In einem Konzert mit den Swiss Chamber Soloists, unter ihnen Heinz Holliger mit Oboe und Englischhorn, gab es eine erfreuliche Wiederbegegnung mit Rudolf Kelterborn: sein „Quartett“ für Holliger (zu dessen Siebzigsten komponiert) und ein Streichtrio ist ein Stück kraftvoller, ausdrucksstarker Musik, die man gern hört. Das gleiche gilt auch für Harrisson Birtwistles „Oboe Quartet“. Zwei starke Auftritte hatte der Posaunist Michael Svoboda mit Heinz Holligers „Deux lectures de Kosovei“ und Lachenmanns „pression“ in der Version für Posaune. Holligers Stück reflektiert zwei Gedichte des früh verstorbenen slowenischen Dichters Kosovei (gestorben 1926 im Alter von 22 Jahren), Lachenmanns Posaunen-Version hört sich erstaunlich milde an im Vergleich zur Cello-Version, obwohl Michael Svoboda mit unglaublicher Intensität zu Werke ging: eine fabelhafte Darstellung.
Nicht alles, was auf einem so reich bestückten Festival, wie es die Wittener Tage für neue Kammermusik nun einmal sind, kann hier ausführlicher erwähnt werden. Doch einige der Uraufführungen sollen nicht unterschlagen werden. Der Franzose Pascal Dusapin, inzwischen schon fünfundfünfzig Jahre alt und unverändert jung aussehend, komponierte sieben Stücke für Streichtrio unter dem Titel „Microgrammes“. Jedem Satz ist ein Zitat aus Robert Walsers „Aus dem Bleistiftgebiet“ vorangestellt, aber Dusapin vertont das nicht im tradierten Sinn, sondern greift die Atmosphäre von Walsers Dichten und Schreiben auf. Ein leises, schwebendes Beobachten, das der Komponist in ebenso leichter, phantasievoller Manier in seine Musiksprache übersetzt. Die Streicher der Swiss Chamber Soloists – Esther Hoppe (Violine), Hürg Dähler (Viola), Daniel Haefliger (Violoncello) – trugen Dusapins „Pièces“ mit viel klanglicher Delikatesse und beweglicher Gestik vor.
Von größerem Interesse war auch Arnulf Herrmanns „Seestück – (Traum) und Tanz“ – zwei Szenen für Stimmen, Ensemble und eine dezentrierte Schallplatte. Beide Szenen werden sich auch in einer Oper finden, die der 1968 in Heidelberg geborene Komponist gerade schreibt, über die er im Programmbuch folgendes mitteilt: „Im Zentrum steht ein Mann, der seine Erinnerung verloren hat und durch eine unbestimmte Sehnsucht angetrieben wird: Alle anderen Menschen scheinen mehr zu wissen als er selbst. Ort der Handlung ist ein Dorf in den letzten Tagen vor seiner Flutung“. Auch hier also wieder das Thema des Gespaltenseins des Ichs, des Verlustes individueller Dimensionen und Realitäten. Claron McFadden (Sopran) und Sebastian Hübner (Tenor), die fabelhafte, von Walter Nussbaum einstudierte Schola Heidelberg sowie das Ensemble Modern unter dem unermüdlichen Johannes Kalitzke – was wäre mit der neuesten Musik, wenn es diesen hochkompetenten Dirigenten nicht gäbe – gelang eine Darstellung des „Seestücks“, die auf die Oper gespannt macht.
Kalitzke und das Ensemble Modern realisierten auch ein Stück des 1971 auf Zypern geborenen Vassos Nicolaou: „Idex“ für zwölf Instrumente. Aparte Klang-und Geräuschfindungen, die wiederum umgewandelt erscheinen. Es ist bedauerlich, aber wohl nicht zu ändern, dass parallel zu den Wittener Musiktagen an der Universität Witten/Herdecke eine thematisch flankierende Tagung veranstaltet wird, diesmal über Musik und Sprache –Titel: Music swallows words/ Erklingende und verschwiegene Sprache in der zeitgenössischen Musik.
Im Programm der Musiktage gab es dazu zahlreiche Beispiele, neben den schon erwähnten auch noch von Alberto Posadas („Vocem flentium“), Eduardo Moguillansky („band/wachs“ für acht Sänger) und Michael Maierhof („Exit D“ aus der Heidelberger Prinzhorn-Sammlung, für acht präparierte Stimmen). Man müsste überlegen, ob sich nicht in solchen Fällen Theorie und klingende Praxis an einem Ort zusammenführen ließen.