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Mario Lerchenberger (Der Bräutigam (Tuomas)), Rosalia Cid (Die Braut (Stela)).  Foto: © Semperoper Dresden/Sebastian Hoppe
Mario Lerchenberger (Der Bräutigam (Tuomas)), Rosalia Cid (Die Braut (Stela)).  Foto: © Semperoper Dresden/Sebastian Hoppe
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Unendliche Musik im weißen Schnee: Kaija Saariahos Musiktheater-Schwanengesang „Innocence“ an der Semperoper

Vorspann / Teaser

Wegen der Pandemie gelangte Kaija Saariahos fünfte und letzte Oper „Innocence“ erst 2021 bei den Festspielen in Aix-en-Provence zur Uraufführung. Die deutsche Erstaufführung folgte 2024 am Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen in der Inszenierung von Elisabeth Stöppler, An der Semperoper Dresden machte Lorenzo Fioroni aus dem Opern-Thriller ein ästhetisches Gebilde mit emotionaler Relevanz. Der Jubel im auch zur zweiten Vorstellung vollen Auditorium war groß.

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So klar und leicht schneit es auf der Bühne der Semperoper über Paul Zollers Drehkonstrukt und den transparenten Plastikprojektionsflächen wie in den letzten Jahren nur an der Berliner Lindenoper zur Uraufführung von Beat Furrers „Violetter Schnee“ und in Romeo Castelluccis Winter-Inferno zu Richard Strauss’ bukolischer Tragödie „Daphne“. Dazu geht es in der letzten Oper der 2023 verstorbenen Finnin Kaija Saariaho um taffe Themen der Gegenwart. Nur allmählich werden die Hintergründe des schwarzen Lochs der Vergangenheit transparent.

In einer Bashing-Aktion hatten Jugendliche ihren Mitschüler im Duschraum zum Entkleiden gezwungen, das gefilmt und in den sozialen Medien verbreitet. Das dadurch sozial stigmatisierte Opfer lief Amok und tötete eine ganze Gruppe und eine Lehrerein. Die Offenbarung von Katastrophe, Kollaps und Trauma wird viele Jahre später ausgehandelt bei der Hochzeit vom Bruder des Mörders. Dabei werden andere Schuldhafte öffentlich: Der Bruder-Bräutigam Tuomas und die Mitschülerin Iris hätten sich an der Untat beteiligt, schreckten aber im letzten Moment zurück. Vor Tuomas’ Braut Stela, die bis zur Hochzeit nichts vom Übergriff und deren Hintergründen wusste, enthüllt sich vom Prolog über die fünf Akte bis zum Epilog von Sofi Oksanens Textbuch eine horrible Verflochtenheit von Mitschuld, Unschuld und scheiternder Bewältigung. Der Regisseur Lorenzo Fioroni machte im Vertrauen auf Saariahos suggestive Komposition pure, kalte Poesie daraus – mit filmischen Zusätzen und zutiefst menschlichen Bildern von sekundenkurzem Glück und lebenslangen Traumata. In der Dresdner Dramaturgie für „Innocence“ ist die Mitwirkung des Traumatherapeuten Georg Pieper als Programmheft-Autor und bei Rahmenveranstaltungen ein wesentlicher Akzent. Zuletzt konnte 2023 in Bischofswerda der Amoklauf eines 16-jährigen gestoppt werden.

Das Textbuch – von Aleksi Barrière in neun von Satz zu Satz wechselnde europäischen Sprachen übersetzt – wurde Anlass zu Saariahos synkopisch flächenhafter Musik mit koloristischen Spitzen, verdichtet durch das subtile Sounddesign von Romualdas Urba. Das Vorspiel ist exemplarisch für die Klangwelten dieser Oper: Man hört E-Piano und seufzende Staccati der Holzbläser. Darunter akkumulieren sich kurze Motivfragmente zu Streicherflächen. Der rezitativische Grundduktus auf der Basis meist kleiner Intervalle wirkt dennoch wie geschlossene Melodiegebilde. Das hat eindeutig Vorbilder bei Debussy und Messiaen. Und wächst weit darüber hinaus, weil Saariaho trotz der kurzen Akte in epischen und koloristischen Großformen dachte. Das Werk schlägt in Bann und hat in der Sächsischen Staatskapelle einen kongenialen Klangkörper.

Maxime Pascal dirigiert mit hoher innerer Beteiligung die erlesene Großartigkeit der Partitur, des Sounddesigns, der Klänge und der preziös verstärkten Sängerstimmen. Jede noch so geringe Einzelheit wird zur akustischen Kostbarkeit. Das karge, harte Sujet der Arbeit am Trauma und dessen Nichtbewältigung erweist sich als optimales Opernsujet, auch durch die kühle Künstlichkeit der Visualisierung.

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Paula Murrihy (Die Kellnerin (Tereza)), Venla Ilona Blom (Schülerin 1 (Markéta)).  Foto: © Semperoper Dresden/Sebastian Hoppe
Paula Murrihy (Die Kellnerin (Tereza)), Venla Ilona Blom (Schülerin 1 (Markéta)).  Foto: © Semperoper Dresden/Sebastian Hoppe
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Die Simultanprojektionen aus dem dichten szenischen Geschehen erzeugen gläsern-silbrige Distanz – wie der Schnee. Der in jedem Detail packend wie opulent gestaltende Regisseur Lorenzo Fioroni ent-gegenwärtigt das Sujet, indem er es ins finnische Fantasieland Tuonela, der Totensphäre, versetzte. Da finden sich Momente zeitloser Archaik durch Annette Brauns atmosphärisch aufgeladene Kostüme und durch die vom Chor gebildeten Gruppen (kongeniale Einstudierung: Jonathan Becker). Fioroni will trotz des Gegenwartssujets und der therapeutischen Perspektive keine aufklärende Dokumentation, sondern hält irritierenden Abstand auch in den gefühlsbetonten Momenten. Eine ganz große Leistung. Hier findet Musiktheater aus einem Guss von Musik und Szene statt, bei dem sich gedankliche Konstrukte in der Fluidität von Komposition und Handlung auflösen.

Innocence“ ist ein Ensemblestück ohne exponierte Hauptfigur. Durch ein Ineinanderfließen von Gegenwart und Vergangenheit, die Spurensuche aus dem Trüben nach der klaren Wahrheit und dem musikdramatischen Watte-Design ergeben sich kaum Anhaltspunkte für eine Zentralperspektive. Natürlich zieht Rosalia Cid als die Braut, der sich ein reales Horrorszenarium eröffnet, die Blicke und Paula Murrihy hat als Kellnerin Tereza Fellini-hafte Episoden. Aber auch alle anderen erhalten wirkungsvolle, geheimnisvolle und qualvolle Minuten in diesem außergewöhnlichen Thriller, der weniger mit Schocksekunden als genial gedehnten Zeitlupenmomenten operiert. So gerät diese Produktion zu einem enervierenden Gesamtkunstwerk auf Höhe gegenwärtiger Problemdiskurse. Bewegend und brillant dank eines energetisch optimalen Ensembles.

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