Wie gegenwärtig die Gegenwartsmusik sein kann, erfuhr man ganz am Ende. Was parallele Geraden erst im Unendlichen tun – hier kreuzten sich Kunst und Zeitgeschehen schon im Endlichen einer Bühnenöffentlichkeit. Vor aller Ohren. Vielleicht die schönste einer mit Überraschungen keineswegs knausernden 11. Ausgabe von „Forum Neuer Musik“ im Deutschlandfunk.
Eine dieser Launen des Zufalls, auf die man nur reagieren kann – wenn man kann. Denn dass die Schockwellen der Katastrophe von Smolensk auch im Kammermusiksaal des Kölner Deutschlandfunk aufschlagen würden, lag auf der Hand. Immerhin sollte mit der früheren, nun unter neuem Namen auftretenden „Polnisch-deutschen Ensemblewerkstatt“, einem Flagschiff des Deutschen Musikrats beim Warschauer Herbst, das Festival in seine Schlusskurve einbiegen. Und dann dies: über Nacht die schockierende Nachricht vom Unglücksflug, die unter Gästen wie Akteuren einen Gefühlskrater schlug. Polen in Trauer. Zugleich: Polnische Instrumentalisten auf dem Podium, polnische Komponisten, Musikwissenschaftler im Publikum. Wie in dieser Situation verantwortungsvoll verfahren? Richtig und wichtig war es natürlich, dass Festivalleiter Frank Kämpfer nach einer erbetenen Schweigeminute an Plan und Ablauf festhielt. Dann aber die Überraschung, als ein längst festgezurrtes Programm seine Dynamik unter Beweis stellte.
Weltverloren
Auf einmal war da eine Musik, die den mäandernden Gefühlen der Betroffenheit eine Projektionsfläche bot. Als sei von unsichtbarer Hand ein Behältnis aufgestellt worden, konnten selbst jene diffusen Stimmungen abfließen, die sich (wie in solchen Fällen üblich) über sich selbst noch durchaus im Unklaren sind. Dabei hat Tomasz Prascalek, junger polnischer Komponist des Jahrgangs 1981, vormaliger Trojahn- und Höller-Schüler, eine Musik geschrieben, die seltsam irrlichtert. Weltverloren schon der Beginn, wenn ohne ein Zeichen des Dirigenten ein Klavier zu spielen anfängt. Mikrotonal gestimmte Streicher, in Gruppen geführte Bläser, die ständig nach irgendetwas zu suchen scheinen, die mal diesen, dann jenen Ton umkreisen, abschweifen, sich verlieren, bis ein Schlag der Glocke zu neuer Sammlung, zu neuem Anlauf ruft. Eine Komposition, der etwas Verlorenes eigen ist. Prascalek, der sich selbst nur bei seinem Künstlernamen Prasqual genannt wissen möchte, hat sein Stück für 22 Spieler „Ymorh“ genannt, was kein Wort unserer Sprache ist, vielmehr dem Vokabular einer Schizophrenen entstammt.
Mag sein, dass der Komponist, der über seine Berufung zum Künstlertum im Gespräch keinen Hehl macht, alles ganz anders gemeint hat. Einiges mochte freilich auch dafür sprechen, in einer anderen Komposition, in „Return“ für Saxophon (Sascha Armbruster) und 14 Spieler der polnisch-österreichischen Komponistin Joanna Wozny, den insgesamt reiferen, wenn nicht reifsten Beitrag der Ensemble-Werkstatt zu sehen. Und doch war es am Schlusstag des Festivals, im Schlaglicht der Tagesaktualität, genau der irrlichternde Prasqual-Ton, an dem sich die Gefühle des Publikums festsaugen konnten.
Eine Erfahrung, die vor allem ein Verdienst der „Polnisch-deutschen Ensemblewerkstatt“ war, die pünktlich zu ihrem Einstand auf einer bundesdeutschen Bühne dank europaweiter Öffnung nun Ensemble EWCM heißt: „European Workshop of Contemporary Music“. Für die Befeuerung dieser (noch etwas sperrig betitelten) Kraftzentrale sorgt seit 2003 Rüdiger Bohn. Seine scharfen Tempi, sein körperbetontes, zuweilen etwas eckig wirkendes Dirigat, trifft auf große Gegenliebe im Orchester. Man geht mit. Und obgleich man sich als Werkstattensemble nur einmal im Jahr trifft, sind Zusammenspiel und Artikulationsvermögen ungemein überzeugend. Bohn, ein intimer Kenner des gegenwärtigen Komponierens, wirft seine ganze Erfahrung hinein und – trifft auf Resonanz. Das ist das Wichtige. Das Moment von Aufbruch, spürbar bereits bei zurückliegenden Ensemble-Auftritten beim Warschauer Herbst, hält sich. Und, vor allem: Das leidige deutsch-polnische Gezerre auf staatspolitischer Ebene kümmert hier niemanden. Es geht um mehr.
Mit der Argentinierin Cecilia Castagneto und der Halbchinesin Kaling Khouw hatte Rüdiger Bohn (im Hauptberuf Professor für Dirigieren an der Düsseldorfer Schumann-Hochschule) zwei Jung-Dirigentinnen eingeladen, die sich mit Geschick und Fortune ihrer Aufgabe stellten. Auch in dieser Personalie variierte das heurige Festivalmotto „Junge Positionen“ aufs Schönste. In seinem mittlerweile zehnten Forum (das Erste wurde noch von MusikTexte-Herausgeber Reinhard Oehlschlägel auf den Weg gebracht) setzt Kurator Frank Kämpfer seine eingeschlagene Linie fort: Zu einem national abstrahlenden Sender gehören für ihn weitgreifende Perspektiven einerseits (Amsterdam–Berlin–Warschau), offene, noch nicht von Markt, Macht und Medien festgelegte Künstler-Positionen andererseits. Gerade darin, im Verzicht auf Szenestars, im Vermeiden „eingeführter“ Namen, möchte Kämpfer sein Bekenntnis zum Bildungsauftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks verstanden wissen. Mehr als nur eine junge Position.
Schnaufend
Da ist, auch als Fortsetzung früherer Forum-Ausgaben, die Zusammenarbeit mit den Niederlanden. In Kooperation mit „Muziek Centrum Nederland“ und „Gaudeamus Muszikweek 2010“ war dem Utrechter Ensemble „Insomio“ das Eröffnungskonzert anvertraut. Das von Ulrich Pöhl geleitete Orchester liebt motorische, koloritreiche Musik. Ein zweiteiliger, bis zum Bersten vollgepackter Abend ließ unter dem Strich allerdings manch Redundantes aufkommen. Weniger wäre vielleicht mehr gewesen. Bemerkenswert immerhin die Realisation eines DLF-Kompositionsauftrags an die estnische Künstlerin Helena Tulve. In deren „Where the Two Seas meet?“ erscheinen die Luftgeräusche der Bläser wie das schnaufende Atmen von Erdarbeitern, die, mit Schaufeln bewaffnet, einen Aushub bewerkstelligen. Mit jedem Wurf, den Pöhl aus dem Orchester heben half, wurde diese Demonstration, diese Feier künstlerischer Arbeit schöner.
Zum (fast schon Forum-typischen) Holland-Schwerpunkt, zum bundesdeutschen Einstand der polnisch-deutschen Europa-Werkstatt EWCM mit Focus bis in die Ukraine (Bohdana Frolyak, Lubava Sidorenko), trat im Festivaljahrgang 2010 ein von aller Nostalgie befreiter Blick auf die einst „jungen Positionen“ der vor 20 Jahren untergegangenen DDR. Kämpfers Vorgabe „Städte“ an den Holzbläser und Dirigenten David Smeyers von der Kölner Musikhochschule, übersetzte dieser kongenial in ein Projekt, das die berühmte, 1970 in Leipzig begründete „Gruppe Neue Musik ‚Hanns Eisler‘“ auf ihr Gegenwartspotential befragte. Auch hier am Werk (wie beim EWCM) eine Gruppe ebenso engagierter wie talentierter Instrumentalstudenten, respektive -absolventen. Die Leuchttürme einer nicht angepassten DDR-Musik – Bredemeyer, Herchet, Schenker, Goldmann – spielte das vom US-Amerikaner Smeyers dirigierte „ensemble 20/21“ ohne falsches Pathos, aber auch ohne deren rebellischen Ton zu verleugnen. Wunderbar die Entdeckung der „Lento-Szene“ von Friedrich Goldmann: Crotales-Klänge, Arpeggien im Klavier, die vorbeihuschen. Eine bukolische Szenerie voller Heiterkeit. Licht, Luft, Farbe. Eben alles das, was fehlte in und an der alten DDR. Die Musik (wie jetzt zu hören war) hatte es längst – als auskomponierte Utopie, die man nicht aufgeben darf.
Seraphisch
Die Kölner Forum-Ausgabe 2010 suchte besagte Sehnsuchtsorte gleich mehrfach anzusteuern: In konzentrierten Matinees und Roundtables, die sich (vor allem in den letzten Jahren) vergewissernd, forschend wie schützende Ringe um die Konzerte angelagert haben. Vor allem aber suchte man die Utopie im Bemühen um die Kreativität der Jungen, die mit sieben DLF-Auftragskompositionen tatsächlich spürbar herausgefordert war. Und selbst wenn davon einiges der grassierenden Technologie-Faszination geopfert wurde (wie in einem zunehmend quälenden, der Geigerin Barbara Lüneburg gewidmeten Abend mit Licht und Laser, Live-Video und Live-Elektronik) – die Richtung stimmt.
Und immerhin sind da ja auch noch die Glücksmomente, ohne die kein Festival auf Dauer auskommt. Berückend der Auftritt des Berliner Sonar Quartetts, das den aus heutigen Ensemblekompositionen vielfach an den Rand gedrängten seraphischen Saitenklang aufscheinen ließ, als sei er in den Arbeiten von Marc Sabat, Peter Köszeghy, Conrado del Rosario und Matthias Hinke soeben erfunden worden. Die Geist-Dimension der Gegenwartsmusik offengelegt dank einer hochkonzentriertern Ensembleleistung. Entsprechend begeistert das Publikum, das in seiner Wahrnehmungsbereitschaft während dreier intensiver Festivaltage schier unermüdlich war.