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Ungehörtes aus dem „Goldenen Zeitalter“

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Das Husumer Festival „Raritäten der Klaviermusik“ vermittelt auf seine Weise „neue“ Musik.
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Kaum jemand hätte sich das träumen lassen: Als der Berliner Pianist Peter Froundjian vor 25 Jahren im „Schloss vor Husum“ – heute liegt es mitten in der „grauen Stadt am Meer“ – zum ersten Mal acht schlichte Klavierabende mit ausschließlich unbekannten Stücken durchführte, wurde er als Sonderling, bestenfalls als etwas schräger Pianophiler belächelt, falls überhaupt wahrgenommen.

Soeben war, einen Steinwurf weit entfernt, das Schleswig-Holstein Musik Festival gegründet worden, das sich allein schon aufgrund seines Umfangs, der Prominenz seiner Mitwirkenden und der mit viel Tamtam beworbenen ungewöhnlichen Spielstätten (die ihm den Ruf des „sozialen Charmes“ einbrachten) sofort beträchtliches Renommee erwarb. Sein Konzept vertrat ziemlich genau das Gegenteil von dem, was Froundjian, frischgebackener Fachbereichsleiter für Klavier an der Kreismusikschule Husum, versuchte. Dort Massenwirksamkeit, hier klein und fein, Populäres gegen Elitäres, große internationale Stars gegen „Künstler zum Anfassen“. Das SHMF war ein Erfolg, die „Raritäten“ konnten es – der veröffentlichten Meinung nach – dementsprechend nicht sein. Doch mittlerweile hat sich das 

Festival zu einem begehrten Treffpunkt für Klavierliebhaber aus aller Welt gemausert, vom „Geheimtipp für Fans und Freaks“ zum „Klavier-Bayreuth“, für das die Karten zumindest für Neulinge kaum leichter zu ergattern sind als auf dem Grünen Hügel. Hier scheint sich ein echtes Bedürfnis zu zeigen, Vernachlässigtes und Unbekanntes jenseits der ausgetretenen Pfade des Konzertlebens zu hören, die auch heutzutage nur wenig Neues über den engen Kanon von „Meisterwerken“ hinaus bieten. Wenn sich hier in den letzten Jahren überhaupt einiges geöffnet hat, so ist das einer neuen Generation junger, neugieriger Künstler zu verdanken, die sich nicht mehr vorschreiben lassen wollen, was als „gut“ und hörenswert zu gelten hat und was nicht. Nicht zuletzt gingen kleine CD-Labels mutig voran – darunter die Firma „Danacord“, die jährlich eine Zusammenfassung der  „Raritäten“ herausbringt. Hier konnten Pianisten ihre Vorlieben verwirklichen, ihre „Ausgrabungsarbeiten“ durchführen, die eine wachsende Zuhörerschaft schließlich auch „live“ erleben wollte. 

Das Husumer Festival gab da wesentliche Impulse. Nirgendwo sonst konnten Kenner und Liebhaber so lustvoll in einer „Raritäten“-Kiste wühlen, in der Samtenes und (Halb)-Seidenes aus dem „Goldenen Zeitalter“ des Klaviers, verblasste Salonstücke, erblindete Juwelen des frühen 20. Jahrhunderts, Verirrungen von großen und verschmähte Kostbarkeiten von kleinen Meistern so lange geschlummert hatten. Wo sonst war die poetische Seite Franz Liszts jenseits seiner bis heute anzutreffenden Verunglimpfung als leerer Tastendonnerer zu erleben? Seine späten Werke, wie die „Nuages gris“ oder die „Bagatelle ohne Tonalität“,  stoßen weit vor der 1900er-Wende (Liszt starb 1886) in die Moderne vor. Wo hörte man Skrjabin, dessen Musik überhaupt erst nach seinem 100. Geburtstag 1973 ins allgemeine Bewusstsein drang? Von den Kühnheiten des Liszt-Freundes Charles-Valentin Alkan, den Abseitigkeiten des klavieristischen Gigantomanen Kaikhosru Shapurji Sorabji ganz zu schweigen. Neben Ronald Smith, Piers Lane, Carlo Grante, Fredrik Ullén setzte sich Marc-André Hamelin immer wieder für diese beiden Sonderlinge ein, hatte mit Alkans „Concerto für Klavier solo“ seinen umjubelten Durchbruch in Husum und sorgte für die deutsche Erstaufführung von Sorabjis Sonate Nr. 1. Fast könnte man sagen, dass der Kanadier selbst von Husum aus vom nur in Insider-Kreisen beachteten Spezialisten zum weltweit geschätzten Super-Virtuosen aufgestiegen ist. Einen wichtigen Beitrag zur Wiederentdeckung jüdischer, vom NS-Regime verfolgter Komponisten leistete der Geiger, Pianist und Musikforscher Kolja Lessing: 1991 brachte er Ignace Strasfogel nach Husum, ein Jahr später Berthold Goldschmidt, dessen „Wiederentdeckung“ zwar schon Ende der 80er Jahre bei den Berliner Festwochen stattgefunden hatte, dessen volle, auch sein Schaffen wiedererweckende Rehabilitation sich dann aber 1993 in Berlin fortsetzte. Beiden Komponisten konnte das „Raritäten“-Publikum persönlich begegnen. Lessing, besonders interessiert am Schülerkreis Franz Schrekers, ermöglichte auch den Zugang zu Karol Rathaus, Grete von Zieritz, Felix Petyrek, Vladas Jakubenas und – als Busoni-Schüler – Wladimir Vogel. 

Unmöglich, alle Entdeckungen dieser 25 Jahre aufzuzählen. Fündig wurde man immer wieder an den Rändern Zentraleuropas, wo man vielleicht weniger vom deutsch-österreichischen Anspruch an handwerkliche Meisterschaft und musikalischen Fortschritt erdrückt wurde, in der spanischen, portugiesischen, britischen oder skandinavischen Musikszene. Besonders lebendig zeigte sich die alte Achse Paris-Moskau – oft mit gewichtigen Sonaten etwa von Paul Dukas, Pierre de Breville oder Vincent d’Indy, deren Schwesternwerke des früh verstorbenen Alexei Stantschinsky oder von Samuel Feinberg sich kühner zur Moderne vorwagten. Die russischen Futuristen Artur Lourié und Nikolaj Roslawez wurden genauso gespielt wie die „Clair des lunes“ des ebenfalls jung ums Leben gekommenen Abel Decaux, die um 1907 durchaus der Atmosphäre und Tonsprache von Arnold Schönbergs Klavierstücken op. 11 (1909) vorgreifen. Überhaupt öffnete sich das Festival zunehmend dem 20. Jahrhundert. Nicht nur die 2. Wiener Schule wurde hier gespielt, sondern auch Hanns Eisler und Karl Amadeus Hartmann; Galina Ustwolskaja und Valentin Silvestrow behaupteten sich neben John Cage, und Charles Ives’ monumentale „Concord-Sonata“ bereitete immerhin vor auf Sonaten von Henri Dutilleux, Alfred Schnittke und Jean Barraqué. Es ist das Verdienst des Festivals, diese Werke einmal außerhalb von Spezial-Veranstaltungen gespielt und in ungewöhnliche Zusammenhänge gestellt zu haben – wobei der Begriff des „Neuen“ in Husum natürlich seinen eigenen Klang hat und an den Grenzen der Epochen und Stile nicht haltmacht. Neu ist das bisher Ungehörte, nicht das Unerhörte. Dass (neben vielen anderen) Marc André Hamelin, Fazil Say und Frédéric Meinders auch immer wieder als Bewahrer und Fortführer der Tradition des komponierenden Virtuosen auftraten, sich – mit sehr unterschiedlichen Handschriften – mit Arrangements, Weiterentwicklungen und Neugeschaffenem als „Neuerer“ zeigen konnten, passt zu dieser Auffassung. 

Zum Jubiläum probierte Festival-Leiter Peter Froundjian einige Neuerungen aus. Bisher hatte er von den bewährten acht Klavierabenden – nur selten um ein Sonderkonzert erweitert – nicht abgehen wollen, doch diesmal  konzentrierten sich einige kürzere Recitals zusätzlich auf besondere Schwerpunkte. So beschäftigte sich Nadejda Vlaeva mit dem familiär-musikalischen Verhältnis Hans von Bülow / Franz Liszt – der Schwiegervater hielt „Dantes Sonett“ aus der Feder des zeitweiligen Gatten seiner Tochter Cosima immerhin einer eigenen Bearbeitung für wert. Daniel Berman widmete sich dem Phänomen der virtuosen Transkription – seine „Nouvelles Soirées de Vienne“ versammelten die Autorennamen Johann Strauß/Carl Tausig/Mili Balakirew/Daniel Berman – und förderte eines der wenigen Klavierwerke von Benjamin Britten, das rhythmisch gepfefferte und ironisch gestimmte „Holiday Diary“ von 1934 zutage. Havard Gimse bot Skandinavisches, darunter die bemerkenswerten „Folk-Tunes from Hardanger“ von Geirr Tveitt (1908–1981). Olga Solovieva, ganz der harten russischen Schule verschrieben, ließ mit der sarkastischen „Suite“ (1945) des Schostakowitsch-Schülers Herman Galynin und der etwas verbindlicheren Sonatine (1946) von Boris Tschaikowsky aufhorchen. In den „großen“ Abenden begab sich Piers Lane nach zauberhaft gespielten, endlich aus dem Mief der „Frauenmusik“ herausgeholten Romanzen Clara Schumanns auf die Spuren des australischen Klaviervirtuosen Percy Grainger, der sich etliche Klavierkonzerte – mit allen Orchesterstimmen! – für den Hausgebrauch setzte. Artur Pizarro bot ein anregendes französisch-portugiesisches Programm, aus dem die sperrige Sonate Nr. 2 des wegen seiner kommunistischen Gesinnung verfolgten Fernando Lopes Graça – eine Art Fernand Leger der Musik – herausragte. In denkbar größtem Gegensatz dazu standen zwei Werke aus England,  gespielt von Danny Driver: Sowohl die Sonate Nr. 6 b-Moll (1961) von York Bowen als auch die d-Moll-Sonate (1905) von Benjamin Dale – Kollegen an der Royal Academy of Music“ wandeln trotz ihres großen zeitlichen Abstandes auf spätromantischen Spuren zwischen Richard Strauss und Rachmaninoff, wirken aber so gediegen und kompositorisch dicht, dass sie manchem weniger „Unzeitgemäßen“ das Wasser reichen können und das böse Wort von England als „Land ohne Musik“ Lügen strafen. 

„Quo vadis, piano“? fragte Froundjian in einer Podiumsdiskussion Journalisten und Autoren aus Deutschland, den USA und Großbritannien. Gepriesen wurde der Klavierabend alter Schule, die Farbigkeit der Programme und die Originalität der Interpreten, wogegen die Einseitigkeit und Gleichförmigkeit heutiger Darbietungen beklagt wurde. Karrierestreben und Perfektionismus, der sich zum Beispiel im Zwang zum Auswendigspielen zeige, wurden als Schuldige ausfindig gemacht. Beides mache das Erarbeiten neuer und ungewöhnlicher Literatur „unrentabel“, stattdessen ginge man zur Befriedigung eines angeblichen Massengeschmacks auf „Nummer sicher“. Eleonore Büning von der FAZ-Sonntagszeitung brachte es auf den Punkt: Die Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts ist nicht für den großen Konzertsaal gemacht, sondern wurde im Salon oder im Wohnzimmer für Kenner und Liebhaber aufgeführt. Schon Liszt ging jedoch in die Riesensäle, zum Massenpublikum. Heute gebe es jedoch Gegenbewegungen, meinte Büning, den Trend zurück zum kleinen intimen Rahmen, zu lockereren Kommunikationsformen. 

Die „Raritäten“ sind darin natürlich schon längst Vorbild – nirgendwo sonst besteht soviel Nähe zum Künstler, wird so aufmerksam gelauscht wie im nur 160 Plätze fassenden Rittersaal des Schlosses. Nirgendwo sonst wird aber auch nach dem Konzert so hart diskutiert, auch mit dem Pianisten. Umso betrüblicher, dass ausgerechnet zum 25. Jubiläum dieses Prinzip aufgegeben wurde: Marc-André Hamelin, dessen Ruhm jetzt natürlich ein großes Publikum anziehen kann, trat nicht im Rittersaal auf, sondern im erheblich größeren, atmosphärefreien „Multifunktionssaal“ des Nordsee Congress Centrums. Man hätte die vielen Fans des Pianisten nicht enttäuschen wollen, hieß es. 

Doch im kalten Mehrzweckbau, noch dazu in einer wenig präsenten Akustik, verpufften die Feinheiten des auf Busoni und Fauré konzentrierten Programms – übrig blieb ein ganz gewöhnlicher, etwas steriler, wenig eindringlicher Klavierabend, welcher eher die manuellen Fertigkeiten des Pianisten vorzeigte als seine Fähigkeit zu sensiblem und dabei äußerst klarem Spiel hören ließ.

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