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Unser „Wäre-Hätte-Könnte-Ich“

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Uraufführungen 2019/04
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Spätestens seit John Cage lässt sich in der neuen Musik alles Klingende und selbst Nicht-Klingende nehmen, machen, ein-, um- und ausarbeiten. Die Auffassung, es gäbe noch Material, dass sich künstlerischer Verwendung und Mitteilung entzieht, scheint ein Relikt der idealistischen Ästhetik des 19. Jahrhunderts zu sein. Ob das Benutzte aber wirklich ästhetischer Erfahrung zugänglich wird, lässt sich freilich nur im Einzelfall durch die Art seiner Verwendung, Formung, Präsentationsweise und situativen Kontextualisierung klären. Und damit ist man mitten im Zwist über Material-, Formal- und Gehaltsästhetik. Den neuralgischen Punkt dieser jahrhundertealten Debatte verdichtete der DDR-Dramatiker und Begründer der „sozialistischen Klassik“ Peter Hacks wie nebenbei im kleinen Dialog „Die Last mit der Lust“ (1990) zur lapidaren Feststellung: „Vor einem Publikum von Hungernden wäre auch das Essen nicht kunstfähig“. Wo exis-tenzielle Bedürfnisse unbefriedigt sind, bleibt das Gezeigte eben jenes Entbehrte, statt ästhetische Autonomie zu gewinnen und sich anderen Lesarten und Wahrnehmungsweisen zu öffnen.

Bei Hacks liest man weiter: „Das Reich der Kunst ist das Reich der Vorschläge, worin man Dinge tut, indem man sie lässt.“ In Kunst dominiert nicht Wirklichkeitssinn, der sonst überall in der Welt nach Realitäten und Reellem strebt, sondern ein Möglichkeitssinn, den einst schon Robert Musil in seinem Romanfragment „Der Mann ohne Eigenschaften“ als einzig helfenden Ausweg aus der damals hoffnungslos auf Krieg und Untergang zulaufenden Gegenwart ersehnte. Die vieldimensionalen Potentialitäten der Kunst entsprechen auch einem vielgesichtigeren Menschenbild. Denn ein Mensch – nochmals Peter Hacks – „ist ja außer dem, was er ist, auch, was nicht zu sein er beschlossen hat.“ Die wenigsten sind Massenmörder, Heilige, Eremiten, Glockengießer, Astrophysiker, Folterknechte, Landschaftsmaler, Film- oder Fußballstars.

Manches, was man selber sein könnte, ist man wegen äußerer Einflüsse oder eigener Versäumnisse nicht. Anderes aber haben wir uns bewusst entschieden, nicht zu sein, so dass es uns gerade deswegen als unser ebenso individuelles wie multiples „Wäre-Hätte-Könnte-Ich“ angehört. Und Kunst stellt uns – letztmalig Hacks – eine solche „Reihe ungelebter Leben zur Verfügung“, nicht als realitätsferne Flucht, sondern als Brennpunkt unserer einen Lebensbahn, die sich an der Kunst wie der Lichtstrahl an der Diskokugel zum beweglichen Kosmos vieler Wege bricht.

Reichlich Möglichkeiten zu pluralem Selbst- und Welterleben bieten auch die kommenden Uraufführungen. Den Anfang macht am 1. April in der Kultur-Villa „Haus am Wald“ Karl Gottfried Brunottes „Tuwa – das heilige Tal“ für Video-Installation, vokale Aktionen, Tuba, mit elektronischer Klangumwandlung, Nebeninstrumenten, Radiophonie und Computerklängen. Am 5. und 6. April bietet das Forum neuer Musik des Deutschlandfunks Köln unter dem Thema „Postmigrantische Visionen“ neue Werke von Farzia Fallah, Lisa Streich, Annesley Black, Ying Wang, Gordon Kampe und Oxana Omelchuck. Am 7. April bringen Musiker des Ensembles Musikfabrik im Essener Pact Zollverein ein Klaviertrio von Joe Lake zur Uraufführung, und am 10. April spielt das Kammerensemble hand werk im Rahmen seiner Konzertreihe im Kölner Kunsthaus Rhenania erstmalig ein Stück von Irene Galindo Quero.

Weitere Uraufführungen

14.04.: Philipp Mainz, Thérèse, Kammeroper nach Émile Zola, Osterfestspiele Salzburg
25.04.: Dieter Ammann, Klavierkonzert für Andreas Haefliger und Wiener Symphoniker, Konzerthaus Wien
26.04.: Elena Mendoza/Matthias Rebstock, Der Fall Babel, Musiktheater, Eröffnung der Schwetzinger SWR Festspiele
27.04.: Christian Mason, Eternity in an hour, Wiener Philharmoniker, Musikverein Wien
28.04.: Martin Christoph Redel, Disput für Horn und Orchester, Weimarer Frühjahrstage für Neue Musik

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