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Freilebendes Huhn. Foto: Hufner
Freilebendes Huhn. Foto: Hufner
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„Unsere Eier gehören uns!“ – Uraufführung der „Hühneroper“ am Atze Musiktheater in Berlin

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Die geistige Verwandtschaft zwischen dem Grips Theater in Berlin-Tiergarten und dem Atze Musiktheater im Wedding zeigt sich besonders deutlich an der jüngsten Atze-Produktion, einem „Singspiel über das Leben auf einer Hühnerfarm und die Kraft von Träumen“ in der wirkungsstarken Inszenierung der jungen Regisseurin Göksen Güntel.

Das Warten zwischen Einlass und Beginn der Aufführung wird für die jungen Zuschauer ab 6 Jahren verkürzt durch Videosequenzen von Freundschaften zwischen Mensch und Tier, sogar liebevollen Umarmungen mit Raubtieren.

Die witzigen Hühnerkostüme von Jane Saks, welche die Darsteller dann für ihr Spiel sichtbar auf der Bühne anlegen, fordern hingegen die Fantasie der jungen Besucher_innen heraus.

Die von Theaterleiter Thomas Sutter nach einem Roman von Hanna Johansen als Singspiel erfundene Handlung führt auf eine Hühnerfarm; fürs Theater ist die Unzahl an Hennen einer Massentierhaltung auf sieben reduziert. Sie leben in einem Käfig ohne Tageslicht und Grün und jede von ihnen muss 300 Eier pro Jahr legen. „Bodenhaltung“, die ihnen zugestanden wird, meint nur einen taschentuchgroßen Fleck, der jeder Henne verbleibt, und entsprechend sind die eingeengten Tiere geplagt von Husten, Ausschlag und krankhaften Geschwüren.

Was ein junger Mensch über die Entstehung von einem Ei bis zum Legen oder möglichen Ausbrüten alles wissen sollte, das erzählt das gemischte Hennen-Ensemble – von Stephan Hoppe, Hartwig Nickola, Natascha Petz, Moritz Ross, Marcus Thomas, Cornelia Werner und Simone Witte – einem jungen Hühnchen, welches hier mit seinen Fragen und Wünschen die Handlung in Gang setzt. Einmal steigt Justus Verdenhalven, der lange Darsteller dieses Hühnchens, aus seiner Rolle und Handlung aus und erzählt, dass er selbst aus einem Dorf stammt, welches immer mehr seine ursprüngliche Funktion und Struktur verloren habe.

Mit den Zeilen aus der Internationalen, „Hell aus dem dunklen Vergangnen leuchtet die Zukunft hervor“, machen die Hühner Revolte gegen den diktatorischen Verwalter. Vierstimmig, zunächst a cappella, dann mit Gitarre begleitet, erklingt die Frage „Kennst du das Lied?“ Das junge Publikum wird zum Mitsingen animiert, und das klappt auch ganz vortrefflich.

Immer wieder verblüfft das freie, für diese Produktion spezifisch engagierte Ensemble mit seiner Bühnenpräzision und seinem gleichzeitigen, perfekten Beherrschen der Instrumente. Im abwechslungsreichen Arrangement und in den Zwischenspielen der – als musikalische Leiterin unsichtbar bleibenden – Komponistin Sinem Altan kommen diesmal Mandole, Quintfidel, Gitarre, Kontrabass, Indisches Harmonium und Schlagwerk zum Einsatz. Angenehm, dass die Verstärkung der Stimmen so dezent ist, dass sie nicht auffällt. Wir haben es hier eben nicht mit einem Musical, sondern mit einem Singspiel in der Tradition der Vorstadttheater zu tun.

In dem direkt aus dem Gebäudekomplex des Campus der Beuth-Hochschule herauswachsenden Atze Musiktheater, gegenüber von universitären biologischen Forschungsanlagen, hat Ausstatter Jochen G. Hochfeld auf der Bühne einen zweigeschossigen Legehennenstall errichtet. Platziert ist dieser auf einer aufgebockten Rotationsscheibe, die von den Darstellern immer wieder auf die Rückseite des düsteren Schauplatzes gedreht wird: im Widerspruch zur ursprünglichen Legehennen-Meinung, „Es gibt kein Grün!“, erleben sie dort grüne Natur. Nachdem zunächst das Hühnchen, dann auch die anderen Hennen durch ein Loch geschlüpft sind, dürfen sie in der ihnen vordem unbekannten Gegend, die sich bis in die Zuschauerreihen des Theaters erstreckt, nun genussvoll Regenwürmer fressen – anstelle jenes Vitamin-Kraftfutters, welches der Verwalter seinen „dummen Hühnern“ entgegengeschüttet hat. Diesen „dümmsten Hühnerhalter“, in einer amorphen Hosenrollen-Mischung aus Gockel und Ausbeuter, gestaltet Guylaine Hemmer singend und krähend ganz köstlich: „Ich mach euch hier den Hahn!“. Zweimal sperrt sich der großsprecherische Verwalter selbst ein, und zweimal befreien ihn die Hühner. Das erste Mal werden sie von ihm deswegen auch noch ausgelacht, beim zweiten Mal aber sind sie schlauer und zwingen ihn zu einem Kompromiss: künftig wollen sie nicht mehr so viele Eier legen müssen, sich im Freien bewegen und jeweils ein Ei selbst ausbrüten. Notgedrungen willigt der Verwalter ein – dann aber kommt der Coup: die Idee der Hühner schafft ihm noch mehr Reibach, denn künftig wird er zwar weniger Eier, diese aber zu einem höheren Preis verkaufen, nämlich als „Bio“-Produkte!

Die knapp 90 Minuten lange, pausenlose Szenenfolge hat die Regisseurin mit Liebe zum Detail, mit Witz und gebotenem Tempo in Szene gesetzt. Die Mischung von künstlerischem Anspruch und ethischem, „grünem“ Denken geht theatralisch auf: spielerisch, mit Ohrwürmern garniert, lässt sie sich bis an die häuslichen Esstische der Berliner Familien aller Schichten transportieren.

Die Zusammenarbeit mit der Böll-Stiftung ermöglicht es, den Pädagogen, die mit ihren Schulklassen diese Aufführung besuchen, kostenlos die Buch-Neuerscheinung „Iss was?! Tiere Fleisch & Ich“ mitzugeben.

Den Machern wäre es zu wünschen, dass dieses neue Musiktheater-Stück von anderen Theatern nachgespielt wird. Doch die vorangegangenen Atze-Musiktheater-Uraufführungen – zuletzt Thomas Sutters und Sinem Altans „Emil und die Detektive“ – fanden, wie der Atze-Theaterleiter zu berichten weiß, keine Nachfolge-Produktionen in anderen Städten. Sowohl reine Jugendtheater, wie auch die Kinder- und Jugendtheater-Ensembles an Stadttheatern, verfügen zumeist nicht über derartige, zugleich singende und instrumentierende Darsteller_innen, wie sie Sutter-Altans Singspielform erforderlich macht.

Also auf ins Atze!

  • Weitere Aufführungen: 8., 11., 26., 27., 28. November, 7., 8., 9. Dezember 2017, 25., 26., 27. Januar, 4., 6. Februar, 4., 5., 6. und 27. März 2018.

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