Eine Filmleinwand vor dem Vorhang, darauf der Kurzfilm „Men of Tomorrow“, plötzlich eine wütende Ansprache aus dem Publikum, dann ein Teil des Festspielhauses auf der Bühne, eine zweite Bühne mit Theater auf dem Theater, später erneute Ansprache des Publikums – das alles in Jules Massenets 1910 vor den Reichen und Schönen in Monte Carlo uraufgeführtem „Don Quichotte“… unser Kritiker Wolf-Dieter Peter erlebte eine frappierende Neudeutung.
Das Filmchen über wahre Werte, die speziell Väter gegenüber ihren Kindern bewahren und vertreten sollten – es ist ein aufwändiger Werbe-Film von einer und für eine Rasierklingenmarke – „Code of Conduct“-Reklame - etwas befremdete Stille im Bregenzer Festspielhaus… in dieses wortlose „Was soll denn das?“ stand vorne plötzlich ein junger Mann auf, redete dagegen und steigerte sich in eine wütende Suada über unser Stillhalten „all dem gegenüber“, über diese unsere Perversion – bis auf der anderen Seite des Parketts Don Quichotte im historischen Kostüm erhob und ruhig auf die Bühne ging.
Der Vorhang öffnete sich zu einem Teilnachbau des Festspielhauses. Don Quichotte bat den jungen Mann zu sich in eine Sitzreihe, ein paar andere Männer kamen, auch ein auf seinen digitalen Hundeknochen fixierter „Smombie“. Dann ging der zweite Bühnenvorhang auf und wir alle erlebten den ersten Akt von Massenets Musikdrama in einer detailfreudig historisierenden, das La Mancha von Cervantes Roman beschwörenden Inszenierung, wie sie von 1910 bis in die 1970er Jahre die Bühne beherrschte: buntes Markttreiben, Quichottes Armenspenden vom rollenden Holzpferd herab, Dulcineas fächerschwingendes Maja-Gehabe, Quichottes Duell mit einem Verehrer, sein liebesverblendeter Schwur, Dulcineas geraubtes Perlenkollier zurückzubringen.
Frappierende Dramaturgie
Den gewollten Eindruck von Antiquiertheit fegten (nach einer zu langen Umbaupause) die folgenden Akte in dramaturgisch-visuellen Zeitsprüngen tollkühn hinweg: Quichotte rasierte sich und der Inszenierung anschließend in einem heutigen Hotelzimmer den Bart ab und erlebte den psychotisch vergrößerten Ventilator als zu bekämpfende Windmühlen; Vorhang zu; in einen wüsten Vorstadthinterhof voller Graffitis – „We could be heroes“ – wagte er sich im Spiderman-Kostüm, zu dem seine heroischen Sätze perfekt passten; die brutal-wüste Schlägerbande ist von Quichottes blutend ungebrochenen Edelmut so beeindruckt, dass sie das Collier rausrückten; Vorhang zu; der zeitlose Held war dann aber in einem modernen, PC-bestückten Office der grauhaarige Underdog inmitten einer Kollegen-Horde und der kühl alle männlich smarten Begehrlichkeiten abkanzelnden Direktionsassistentin Dulcinea im eigenen Glaskasten-Büro; ihr Dankeskuss für das Collier bewegte Quichotte zu einem utopischen Heiratsantrag, dessen realistisch-sachliche Ablehnung ihm das Herz brach; Vorhang zu; zurück im Theater-Imitat des Beginns öffnete sich eine kleine Bühne mit einem absterbenden Baum, vor dem Quichotte vom treu durch alle Welten dienenden Sancho Abschied nahm und ihm die „Insel der Träume“ vererbte – während Assistentin Dulcinea durchs Festspielparkett davon ging und durch die geöffneten Hintertüren ihr „die Zeit der Liebe ist dahin“ hereinklang…
Musiktheater für Heute
Davor gab es einen Beifallssturm für Sanchos wütende Anklage gegen uns „gemeine Halunken, Schmeichler, Schlampen“ mit Sätzen wie „Lass uns kämpfen gegen Feigheit und Niedertracht, den Unglücklichen das Brot der Güte geben“ – Massenets Plädoyer für humane Grundwerte vor Monte-Carlo-Publikum war erschreckend aktuell! Daher auch einhelliger Jubel für Regisseurin Mariame Clément, ihre Ausstatterin Julia Hansen und das gesamte Bühnenteam.
Trotz der in der Premiere viel zu langen Umbaupausen war es Dirigent Daniel Cohen gelungen, die Wiener Symphoniker zu Jules Massenets exquisiter Mischung zwischen feinsinnigem „Lyrisme française“ und dann auch dramatischem Aplomp zu animieren. Es wurde nachempfindbar, wie sehr sich Massenet gegen allen in Frankreich dominierenden Wagnerianisme wandte, Zurückhaltung und Feinsinn pflegte. Darin folgte ihm ein herrlich rollendeckendes Solistenensemble: die selbstbewusst kühle Dulcinea von Anna Goryachova; der pragmatisch realistische Sancho von David Stout und der schlank hochgewachsene Gábor Bretz mit nuanciertem Bassbariton als „der erste derer, die Gutes säten“. Ohne moralinsauren Zeigefinger wurde ein zumeist unterschätztes Werk mit „Figuren von Einst“ zur bestürzend aktuellen und seiner eindringlich leisen Mahnung tief anrührenden Mahnung: in einer von Kreisch-Brüll-Medien wie raffinierten PR-Strategien durchzogenen Zeit dominieren gerade verbale Proll-Typen – gegen all das sind zeitlose humane Werte zu verteidigen!