Von jeher waren die Dresdner Tage für zeitgenössische Musik bestrebt, Musik nicht autonom, sondern in Beziehung zu anderen Künsten und thematischen Kontexten zu präsentieren. Musik und Tanz, Musik und Politik, Musik und außereuropäische Kulturen, diese Themen gaben Impulse für die Programmgestaltung und qualifiziert besetzte, aussagekräftige wissenschaftliche Kolloquien. Doch seit Udo Zimmermann den genialen Coup landete, sein Dresdner Zentrum im Festspielkomplex Hellerau anzusiedeln und damit nicht nur zur Rettung dieses einmaligen Bauensembles in seiner Tradition kultureller Nutzung beizutragen, sondern auch seine eigene Institution zu konsolidieren, könnte sich ein durchgängiger Trend weg von der reinen Konzertform, hin zu Visualisierung und Verräumlichung ausbilden. Zum „Europäischen Zentrum der Künste Hellerau“ umbenannt bekennt sich das Dresdner Zentrum für zeitgenössische Musik nun zu einer Einheit von Kunst und Leben, die um 1915 die legendären Rhythmik-Aufführungen von Emile Jaques-Dalcroze in Hellerau geprägt hatte. Raum, Zuschauer und Darsteller verschmolzen in Klang und Bewegung zu einem einzigen Kunstwerk – eine Attraktion für die gesamte damalige kulturelle Elite Europas. „Kunst im öffentlichen Raum“ hieß auch der rote Faden des diesjährigen Programms, der etwa japanischen Butoh-Tanz, Filmmusiken, instrumentale Grenzgänge des Ensemble Aleph, das Kolloquium „Räume der Musik“ und Musiktheaterminiaturen von Manos Tsangaris „für ein Haus“ zusammenspann.
Der Raum, um den sich alles drehte, stand allerdings noch gar nicht zur Verfügung, blieb vorerst im wahrsten Sinne „Utopie“: Heinrich Tessenows Festspielhaus, erbaut 1913, als „Bildungsanstalt für Musik und Rhythmik“ Geburtsstätte des Ausdruckstanzes, später ein Sportinstitut der Nazis und sowjetische Kaserne, wird erst 2006 nach grundlegender Sanierung wieder eröffnet. So machte man aus der Not eine Tugend und benutzte einfach die Spielstätten entlang der Straßenbahnlinie 8, die nach Hellerau fährt. Wie stark Aufführungsorte auf das Dargebotene wirken, die Wahrnehmung beeinflussen, war nachhaltig zu erfahren. Am ehesten im alten Gleis befand sich noch der „Festival-Prolog“ des Studios Neue Musik Moskau, sensibel und solide gearbeitete Kammermusik, die in ihrer Konzentration auf Abstraktes und Imaginäres die Thematik eher konterkarierte. „Briefe ohne Wörter“ von Alexei Syumak ist so ein ungreifbares, zart zerfasertes Gebilde, das auch der textlosen Sopranstimme keinerlei Botschaft oder Bedeutung anvertraut.
Als Höhepunkt dieses Eröffnungswochenendes war das Ensemble Modern mit der Feier seines 25-jährigen Jubiläums angekündigt, von Zimmermann als Würdigung des „außerordentlichen politischen und künstlerischen Rang(s) Helleraus“ gewertet. Dem entspreche auch die Besonderheit und Qualität der mitgebrachten Komposition, des circa einstündigen Ensemblestücks „le tout, le rien“ von Jens Joneleit. Von einem „ins Heute übertragenen Bruckner“ war die Rede, „klingenden Monolithen, die scheinbar aus der Stille wachsen“, während das 37-jährige „Ausnahmetalent unter den deutschen Komponisten der
jüngeren Generation“ in wortgewaltigen Einführungstexten alle erdenklichen Grenzüberschreitungen beschwor. Tatsächlich beginnt das Werk mit opulenten Klängen, extremen Registern knurrender Basstuben und grellen Piccoloflöten, wilden Schlagzeugattacken – ein Katastrophenszenario. Das stürzt in die eindimensionale Linie ab, unendlich langgezogene, an den Rändern ausgefranste Streicher-Unisoni. Hat dieser heftige Kontrast seine Klangreize und auch seinen Ausdruck, so läuft er sich doch auf die Dauer tot, ist keine Form erkennbar außer ein ewiges Vagieren und Vegetieren, vom pflanzenhaft wuchernden Stil eines Wolfgang Rihm durch das Fehlen an Variation, an Formen- und Figurenreichtum jedoch weit entfernt. Richtig spannend wird es erst zum Schluss, als sich das großartige Ensemble in eine wilde, vitale freie Improvisation stürzt.
Nachwuchsförderung war immer ein fester Bestandteil der Dresdner Tage für zeitgenössische Musik. Das neu geschaffene „Musik Stipendium Hellerau“ zeichnet junge Künstler aus, die Interesse an avancierter Kunst und interdisziplinären Projekten haben. Jährlich wird eine Stipendiatengruppe aus Sängern, Dramaturgen, Videokünstlern et cetera zur Realisierung eines musiktheatralischen Projektes zusammengestellt. In diesem Jahr konnten sich die Deutsche Karoline Schulz, die Schwedin Ida Lundén und der Litauer Marius Baranauskas als Komponisten szenischer Fragmente beweisen. Die Hochspannungshalle der Technischen Universität gab im geheimnisvollen Beleuchtungsdesign Maik Blaums den futuristischen Rahmen ab, dem die Musik leider überwiegend Klischees zwischen Opas Oper und diffusem Weltraum- oder Sakral-Sound entgegensetzte. Auch Regisseurin Dorothea Kirschbaum ließ den Szenarien alltäglicher Beziehungskonflikte trotz plausibler Personenführung nicht gerade überwältigende Phantasie angedeihen. Die Sänger und Instrumentalisten allerdings agierten mit großem Engagement, Einfühlung und technischem Können. Häufig zu beobachtende Diskrepanzen kamen so zum Vorschein: Zwischen hoch entwickelter, auch ästhetisch attraktiver Technik und in alten Verhaltensweisen befangener Gesellschaft, experimenteller Form und konventionellem Inhalt, hohem Interpretationsniveau und dürftiger Werkvorlage. Zumindest sind diese jungen Komponisten noch heftig auf der Suche nach ihren Wurzeln und davon ausgehenden authentischen Entwicklungsmöglichkeiten.