Samstagnachmittag Schönower Straße, Ecke Alt Zepernick: es nähert sich Lärm und Geschmetter, ein überschwenglicher Tambourmajor stört den Verkehr, und Trommler, Pauker, drei Posaunisten und die Tubistin überqueren die Straße. Zum Gaudium der Öffentlichkeit marschiert die seltsame Dorfmusik in den Bernauer Baubedarf.
Partiturseiten an Hoftüren bezeichnen dort Standort und Aufgabe jedes Mitwirkenden und schon entfaltet sich eine ebenso freche wie assoziative Improvisation, die einbezieht, was herumliegt, kühn durch’s Publikum schwenkt und Klischees und Konventionen nicht scheut. Friedrich Schenkers „Bauhof-Konzert“ ist der Höhepunkt einer vierstündigen Reise durch Werkstätten, Lager, Wohnhäuser und Ateliers, an denen für einen Tag die Neue Musik spielt. An Prominenz mangelt es nicht: Michael Weilacher gibt einen Straßenmusiker, Sven-Ake Johansson trommelt sein Telefonbuch-Stück, von Ralf Hoyer, Matthias Bauer und Helmut Zapf werden eigens geschaffene Werke uraufgeführt.
Zum dritten Mal gehört diese „Soundtour“ durch Dorf und umliegende Orte zum Open-Air-Angebot der Zepernicker Randspiele. Sie vereint Instrumentalisten der Berliner Szene und ihr Publikum besteht aus Anwohnern, internationalen Gästen und Künstlern aus der Region. Mit Avantgardekunst in den Alltag hinein zu wirken, diese Intention realisiert Randspiele-Chef Helmut Zapf nicht mit erhöhten Förderzuschüssen, sondern mittels seiner Person, mit musikalischer Basisarbeit und mit einem kontrastgespickten Programm. Um Kirchgemeinde und Dorf, Künstler, Sponsoren und Partner zusammenzubringen, haben er und Karin Zapf, die Kantorin im Ort, über die Jahre hinweg nicht wenig an Energie und Engagement eingebracht. Anfang der 90er-Jahre begannen sie als kleines Ersatzdomizil für Avantgardisten der Ex-DDR, die im Zuge der Einheit bisherige Podien verloren hatten . Schnell folgten Schüler und deren Schüler, die junge Szene der Hauptstadt, komponierender Nachwuchs aus aller Welt.
Die internationalen Kontakte ergeben die zweite wichtige Komponente des Festivals am nordöstlichen Rand von Berlin. Sie realisieren sich in einem regelmäßigen Arbeitsaustausch mit Komponisten und Ensembles der Schweiz sowie in der Zusammenarbeit mit einem jährlich wechselnden Gast-Land. Im sechzehnten Randspiele-Jahr präsentierte sich Neue Musik aus Seoul – das dortige Festival „Panmusic“ und die südkoreanische Botschaft finanzierten zahlreichen Besuch und vier neue Werke: Seungwoo Paik schrieb ein auf einfache, fast theatrale Wirkungen setzendes „Streichquartett II“ – vergleichsweise kühl und artifiziell klangen In-Ho Parks Studien über zwei Zahlen – die „Repetitive Mutation III“ von Seung-jae Chung wirkte dagegen fast schon romantizistisch. Uraufgeführt wurden die Stücke vom sehr gut disponierten Sonar Quartett aus Berlin, das im Herbst seinerseits nach Seoul fliegen wird. Insun Cho’s „Winterlicht VIII“, eine aparte, farbreiche Studie zu einer fernen Natur, geriet dank der vier jungen Streicher zu einem der Randspiele-Highlights.
Ein anderer Höhepunkt: Paul Heinz Dittrich’s „Bruch-Stücke“ für Posaune und Tonband. Das 1986 in Ostberlin entstandene Stück galt bislang als kaum spielbar – Matthias Jann, Schüler von Mike Svoboda, setzte es im selben Konzert virtuos und klangsicher um. Solche ästhetischen Brüche sind für die Zepernicker Programmdramaturgie charakteristisch. Anfang Juli 2008 fügten sich alle zwölf Events und Konzerte unter das beredte Motto der „KlangBaustelle“. Helmut Zapf, selbst Komponist, bezieht in dieser Metapher den Werkstattcharakter neuer Musik auf die komplexe, fortwährend auch bauliche Umgestaltung des Dorfs seit nunmehr fast 20 Jahren. Wie der Ort, so hat sich seit Anfang der 1990er-Jahre auch das Komponieren verändert – vor allem die Werke und Visionen der heute Jungen sind Ausdruck dieser Transformation. Deren ästhetische Bandbreite war auch bei den XVI. Randspielen breit – sie reichte von Jin-Ah Ahn bis zu Peter Köszeghy und Eres Holz, von Elia Koussa bis zu Sebastian Stier. Die Älteren wie Friedrich Goldmann, Georg Katzer, Thomas Kessler, Ernstalbrecht Stiebler und Walter Zimmermann kontrastierten.
Nach wie vor gehört es zum Besonderen des Kleinfestivals, dass es Komponisten aus Ost und West, Nord und Süd kombiniert und voraussetzungslos ins Gespräch bringt. Der sommerliche Kirchgarten der Gemeinde St. Annen lädt Jahr um Jahr zu einer Art Familientreffen Neuer Musik und zum Brainstorming über neue Projekte ein, die hinauswirken über die auch kulturell gern als strukturschwach deklarierte Region. Auch künftig und gemeinsam mit passenden Partnern will das Randspiele-Team hier Substanzielles wie Querständiges initiieren. Die gewachsene Mentorschaft über die ältere wie die jüngste Komponierszene, die in Brandenburg und in der Hauptstadt zu wenige Spielorte haben, verpflichtet im Grunde dazu. Die GEMA-Stiftung, EWE, Pro Helvetia, die Botschaft der Schweiz, die Berlin-Brandenburgische Akademie der Künste, der Deutschlandfunk und der Deutsche Musikrat unterstützen diesen Festival-auftrag seit Jahren. Die Förderer ermöglichten in diesem Jahr auch einen besonderen Abend. Zugeschnitten war er auf die Berliner Gesangsprofessorin Eiko Morikawa, die demnächst nach Japan zurückkehrt. Gemeinsam mit Musikern des Ensemble Junge Musik bündelte sie zwölf vokale Miniaturen poetischen, satirischen wie politischen Charakters zu einem vielgesichtigen Abschluss- und Abschiedskonzert.