Heinrich Kaminski (1886-1946) war einer der ganz großen deutschen Komponisten der Epoche der anbrechenden Moderne. In den 1920er Jahren stand dies in der musikalischen Öffentlichkeit außer Frage, doch die Machtergreifung Hitlers änderte auch hier alles, und Kaminski wurde als Vierteljude zur unerwünschten Person im kulturellen Leben. Seine Musik war dadurch nicht verboten, aber verpönt, und nur wenige, wie in Rostock der als Komponist nicht minder bedeutende, in der Endphase des Zweiten Weltkriegs gefallene Heinz Schubert (1908-45), zeigten noch die Courage, Musik Kaminskis in ihren Konzerten zu bringen.
Im Jahr nach Kriegsende starb Kaminski, und auch das große Bemühen seines engsten Schülers Reinhard Schwarz-Schilling, eines kompromisslosen Gegners des Nationalsozialismus, konnte sein Vergessenwerden nicht wirklich verhindern, denn auch Schwarz-Schilling selbst mit seinem Bekenntnis zur Tonalität hatte einen schweren Stand inmitten eines Klima des radikalen Modernismus, der alle Brücken zur so schwer belasteten Vergangenheit niederbrennen wollte. Es war nunmehr im vergangenen Jahrzehnt vor allem eine phänomenale Aufnahme der Deutschen Kammerakademie Neuss unter Lavard Skou Larsen mit Kaminskis monumentalem Streichquintett in der von Schwarz-Schilling eingerichteten Fassung für Streichorchester, die überzeugend den Blick frei gab auf die musikalische Ausnahmestellung Kaminskis und vielleicht so etwas wie eine Renaissance seiner Musik einläuten könnte – wäre da nicht die ungeheure Komplexität derselben, die für alle Aufführungen den härtesten Belastungstest darstellt und insbesondere die Orchester und Dirigenten abschreckt, denn so viele Proben wie ambitionierte Kammermusiker können diese fast nie und nirgends zur Verfügung stellen.
Nun hat man sich von Seiten des Musikkollegiums Winterthur, des gerade in Nazizeiten unter Hermann Scherchen wichtigsten Klangkörpers für Kaminski, der sich mit 55 Aufführungen seiner Musik von allem anderen abhebt, entschlossen, im Zuge der Veröffentlichung des Briefwechsels zwischen Kaminski und seinem überlebensnotwendigen Gönner Werner Reinhart einen Hommage-Abend für den weitgehend vergessenen Meister am 3. Oktober zu veranstalten. Vier Werke Kaminskis sollten dabei erklingen, doch unerwartete Vorkommnisse sorgten dafür, dass nur zwei Werke erklangen.
Zu Beginn des Konzerts unter dem umsichtig und souverän agierenden Dirigenten Jan Schultsz erklang das 1942 komponierte ‚Tanzdrama‘, ein Schlüsselwerk in großer symphonischer Besetzung aus später Zeit, das Kaminskis hymnisch-ekstatischen, unerschöpflich ornamentreichen Stil in exemplarischer Weise vorstellt. Die Schwierigkeiten der Aufführung lassen sich für den Laien nicht ermessen, und es muss als Großtat gelten, diese so unerhört komplex in ihren kontrapunktischen Finessen, ihren Gegenrhythmen, ihren freien Einsätzen, ihrem alle Taktstriche überflutenden freien rhythmischen Fließen, ihrem improvisatorischen Rubato continuo so fasslich und nah am in der Partitur dokumentierten Willen des Komponisten darzustellen. So gespielt, erkennt man, dass Kaminskis Bestreben, die deutsche kontrapunktische Tradition von Bach, spätem Beethoven und Bruckner ins Unbekannte weiterzuentwickeln, nicht den Hauch von Größenwahn in sich trug, sondern ein seinem Können und seiner künstlerischen Botschaft adäquat formuliertes Anliegen war.
Dann erklang, in Uraufführung, jene Suite in drei Sätzen für großes Orchester aus Kaminskis Studienzeit in Berlin (1909-14), die lange Zeit für verschollen erachtet wurde. Bis der Vorsitzende der Kaminski-Gesellschaft, Herbert Müller-Lupp, von einem Nahfahren des mit Kaminski eng befreundeten Maler-Genies Franz Marc angerufen wurde: er habe auf dem Dachboden eine Kiste mit Noten gefunden – ob er sie nun in die blaue Tonne geben solle, oder ob sie abgeholt würden? Sie wurden umgehend abgeholt, und nun erklangen erstmals der ‚Prolog zur Edda‘, die wunderbar eigentümliche ‚Waldeinsamkeit‘ und die dramatisch archaische Liebeserzählung ‚Lami und Fâla‘, und das Publikum nahm die unbekannte Musik enthusiastisch auf.
Dem erhaltenen Stimmenmaterial ist zu entnehmen, dass damals wohl eine Leseprobe des ersten Satzes stattgefunden hat, doch alles andere ist nie zuvor erklungen, und später hatte Kaminski das Interesse an seinem Jugendwerk verloren und nahm es nicht in seinen Werkkanon auf. Man versteht, warum das der Fall ist. Wie vor ihm bei Mendelssohn, Wagner, Mahler, Strauss oder Schönberg oder zeitgleich bei Bartók oder Strawinsky, so hatte sich auch bei ihm noch nicht wirklich die schöpferische Eigenart unverkennbar manifestiert (also anders als beispielsweise bei Beethoven, Schubert oder Chopin), und so klingt vieles auffallend nach Bruckner (vor allem nach der 4. Symphonie), im schnellen Finale nach Max Reger, der letzte Schluss in seinem überschwänglichen Schwung gar nach Strauss, immer wieder scheint auch Wagner durch – und doch: in den hymnisch kadenzierenden Schlüssen, in den plötzlich erstrahlenden Dur-Wendungen hört man dann auch schon hier und da eindeutig jenen Kaminski, der dann kurz darauf im Streichquintett zu klarem Ausdruck kommen sollte. Das ist der immer wieder bewegende Moment, in dem sich der junge Komponist aus dem Schatten seiner Vorbilder heraus bewegt.
Auf alle Fälle ein sehr lohnendes Werk zur Vorstellung auch andernorts, und vielleicht ja auch bald auf Tonträger, denn: bisher ist die gesamte symphonische und chorsymphonische Musik von Kaminski (wie auch sein Musiktheater) noch mit exakt null Werken in erhältlichen Einspielungen dokumentiert. Höchste Zeit also für eine Behebung dieses Missstandes, der wie gesagt vor allem die immense Schwierigkeit der Aufführung im Wege steht.
Dirigent Jan Schultsz jedenfalls hat eindrücklich unter Beweis gestellt, dass er in Frage kommt, um ein solches Unterfangen erfolgreich durchzuführen, und das Musikkollegium Winterthur hat einen ersten Schritt getan, um an seine glorreiche Vergangenheit in Sachen Kaminski anzuknüpfen. Wir hoffen auf weitere Großtaten.