Bislang von Öffentlichkeit und Fachpresse kaum bemerkt, geschweige denn diskutiert, vollzieht der gesamte öffentlich-rechtliche Rundfunk in Deutschland nach allen Wellenreformen der letzten Jahre gegenwärtig eine schleichende, deswegen aber möglicherweise besonders tiefgreifende und folgenschwere Umstrukturierung. In der Zeit von Mitte Juli bis Mitte September werden sämtliche Kulturradios der ARD täglich ab 20:05 bis 24:00 Uhr ein und dasselbe Programm ausstrahlen: Einem Festspielkonzert wird eine Lesung folgen, eine Jazz-Sendung und schließlich eine zeitgeschichtliche Dokumentation anlässlich des sechzigjährigen Bestehens der BRD und ihres Grundgesetzes. Zwei Monate lang hört ganz Deutschland das „ARD Radio-Festival“, oder eben nicht, weil die Hörer ihre Lieblingssendungen und Lieblingssender vorziehen.
Dass sämtliche beteiligten Wellenchefs und Intendanten, die sonst so peinlich auf ihre Programmhoheit und Unabhängigkeit pochen, sich ohne jeden erkennbaren Einspruch an dieser zentralistischen Gleichschaltung beteiligen, gibt zu denken, auch und gerade im Hinblick auf die Zukunft von Uraufführungen Neuer Musik. Im Rahmen des Sommerprogramms werden freilich auch Konzerte von Festivals Neuer Musik bundesweite Ausstrahlung erfahren. Den Verlust an Sendezeiten für Neue Musik während zweier Monate vermag das jedoch nicht aufzuwiegen, da gerade die Sendeplätze am späteren Abend, die üblicherweise den avancierteren Kunstformen vorbehalten sind, dem Einheitsprogramm weichen werden. Der Wegfall wertvoller Kultursendungen in allen Kulturradios der ARD hat Auswirkungen auf die gesamte Szene der Neuen Musik. Er bedeutet eine Verknappung künstlerischer, intellektueller und finanzieller Produktionsmöglichkeiten.
Dass zwei Monate lang sämtliche Redakteure für Neue Musik in Deutschland per Beschluss der eigenen Wellenchefs und Intendanten davon abgehalten werden, ihre Arbeit zu machen, also eigenes Programm zu gestalten, weckt Befürchtungen. Möglicherweise vollzieht sich so ein weiterer Schritt beim schleichenden Ausstieg des durch Gebühren finanzierten Rundfunks aus seiner verfassungsrechtlich verankerten föderalen Struktur und ausdrücklichen Verpflichtung zur Pflege von Kultur und Minderheitenprogrammen. Weniger Sendeplätze und eingesparte Produktionsmittel heißen: weniger Aufträge an Komponisten, weniger Aufführungsmöglichkeiten für Ensembles, weniger Einnahmen für Verlage, weniger Bedarf an Moderationen, Porträt- und Kommentarsendungen und schließlich, das Versiegen des Lebenspulses der Neuen Musik: weniger Uraufführungen.
Uraufführungen
02.07.: Jay Schwartz, Narcissus & Echo, Kammeroper, Münchner Opernfestspiele
03.07.: Iris ter Schiphorst, Dislokationen, Herkulessaal München
04.07.: Wildwuchs – SchurwaldMusik mit Getöse, Guggen und Godzilla, Gartenschau Rechberghausen
05.07.: Moritz Eggert, Auf dem Wasser zu singen, Tiroler Festspiele Oberaudorf
16.–19.07.: Der Sommer in Stuttgart, Werke von Kampe, Schleiermacher, Riehm, Dohmen und 21 neue Vokalkompositionen auf Texte von Stipendiaten der Akademie Schloss Solitude
18.07.: Salvatore Sciarrino, Superflumina, Nationaltheater Mannheim
26.07.: Sommerliche Musiktage Hitzacker, neue Werke von Bernhard Lang, Furrer, Aumüller und Robert Krampe
07.08.: Manfred Trojahn, Sentimento del tempo, Ansbacher Bachwoche
21.08.: Detlev Glanert, Drei Gesänge ohne Worte für Orchester, Gewandhaus Leipzig
21.08.–01.09.: Festival AlpenKLASSIK, neue Werke von Mantovani und Motschmann, Königliches Kurhaus Bad Reichenhall
21.08–13.09.: „pèlerinages“ Kunstfest Weimar, neue Werke von Kessler, Vertov und Nyman
28.08.: Georg Friedrich Haas, Traum in des Sommers Nacht für Orchester, Gewandhaus Leipzig