Müssen wir Kunst und Musik wieder einmal ganz anders zu denken versuchen, vielleicht so wie Joseph Beuys? Der 1986 verstorbene Künstler wäre am 12. Mai 2021 einhundert Jahre alt geworden. Manche schalten ihn als Clown oder Scharlatan, andere verehren ihn bis heute als Lehrmeister, Visionär, Schamanen, politischen Aktivisten und Mitbegründer der Grünen. Ließe sich nicht gerade jetzt sein „erweiterter Kunstbegriff“ wieder aufgreifen, wo uns gegenwärtig Corona-Verordnungen vereinzeln, auch weil Kunst und Musik nicht mehr gemeinschaftlich in Museen, Theatern, Kinos oder Konzerten erlebt werden, sondern nur noch via Internet oder eben da, wo sie immer schon ihren Ausgangs- und Zielpunkt hatten: in Kopf, Herz, Geist, Körper und Seele jedes einzelnen Menschen?
Die von Beuys geprägten und bis heute am häufigsten zitierten Schlagworte „Jeder Mensch ist ein Künstler“ und „Kunst als soziale Plastik“ bilden den Kern seines anthropologischen Kunstverständnisses. Sein auf alle Menschen und Problemfelder der Gesellschaft bezogener „erweiterter Kunstbegriff“ bedeutet für jeden Einzelnen die Zumutung im doppelten Sinne des Wortes, „ein sozialer Gestalter der Zukunft“ zu sein. Denn das größte Kapital des Menschen ist nicht Hab und Gut, sondern Kreativität, die Möglichkeit zur Erweiterung der eigenen Fähigkeiten, Wahrnehmung, Gefühle, seines Verstehens und Willens. Beuys ging es um nicht weniger als eine Umwandlung der durch Egoismus, Profitdenken, Naturausbeutung und Ressourcenvernichtung gestörten menschlichen Praxis. Entscheidend ist dabei, dass jeder mit dieser Transformation bei sich und seiner Umgebung beginnt. Beuys’ Behauptung „die Revolution sind wir“ schreibt dem Menschen ein „hohes Maß an Freiheit, Selbstbestimmung und Souveränität zu“, um mit einem solchen „universellen Herrschaftsbegriff“ zugleich „die höchste Form der Demokratie“ umzusetzen.
Auf der documenta 6 sollte seine Installation „Honigpumpe am Arbeitsplatz“ (1977) ökologische Kreisläufe von Mensch, Umwelt und Biosphäre symbolisieren. Bei der documenta 7 1982 startete Beuys die Intervention „7000 Eichen – Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung“, in deren Rahmen fünf Jahre lang ebenso viele Bäume – jeweils mit einer Basaltsäule gepaart – im Kasseler Stadtgebiet gepflanzt wurden. Beuys wollte damit für die Dauer der Lebensspanne von Eichen – bis zu achthundert Jahren – den Zeitpunkt markieren, „wo die Menschen beginnen, nach den gewaltigen ,Vertotungsprozessen‘, die sie bewirkt haben durch ihren Arbeitsbegriff, durch ihren Technologiebegriff, durch ihren Materialismus, durch ihre politischen Ideologien, durch die Produktionsprozesse, durch den Kapitalismus oder durch den Kommunismus, wie man es auch immer nennt, allmählich den ,Aufrichteprozess‘, das heißt, den ,Verlebendigungsprozess‘ sowohl der Natur als auch des sozio-ökologischen, das heißt des sozialen Organismus zu bewirken“.
Was ist von diesem Aufbruch geblieben? Wie steht es um die Änderung der menschlichen Praxis? Lassen sich heute Anstöße zu globalen Prozessen über das Internet womöglich leichter senden und empfangen als damals? Gehen ähnliche Geistesblitzschläge momentan auch von neuer Musik aus? Falls ja, von wem, wo, wie, wodurch? Kann Musik solche Kraft auch durch Live-Streams entfalten, oder verkommt sie dabei zum schalen Instantprodukt? Was geschieht nun beim Festival ECLAT, das an fünf Tagen alle seine dreizehn Konzerte ausschließlich online präsentiert?
Uraufführungsstreamings
03.–07.02.: Onlineausgabe des Festivals ECLAT aus dem Theaterhaus Stuttgart mit insgesamt 35 Stücken, darunter 24 Uraufführungen von Cynthia Zaven, Raed Yassin, Dániel Péter Biró, Aya Metwalli, Samir Odeh-Tamimi, Youmna Saba, Manolis Manousakis, Isabel Mundry, Marco Döttlinger, Wolfgang Motz, Leopold Hurt, Iris ter Schiphorst, Alexander Schubert, Günter Steinke, Kristine Tjøgersen, Matias Vestergård-Hansen, Anda Kryeziu, Emilio Guim, Picardo Eizirik, Anna Sowa, Georges Aperghis, Christopher Trapani und Silvia Rosani. Anfangszeiten der Live-Streams und Zugänge zum Web-Portal unter www.eclat.org/tickets