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Vom galizischen Schtetl auf die große Bühne: Der junge Baruch (Ernst Deutsch) möchte Schauspieler werden und schließt sich einem Wandertheater an. © Deutsche Kinemathek/ZDF
Vom galizischen Schtetl auf die große Bühne: Der junge Baruch (Ernst Deutsch) möchte Schauspieler werden und schließt sich einem Wandertheater an. © Deutsche Kinemathek/ZDF
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Uraufführung von Philippe Schoellers neuer Musikfassung zu E. A. Duponts „Das alte Gesetz“

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Am Anfang der Berlinale stand in den vergangenen Jahren zumeist ein Stummfilm mit großem Live-Orchester, interpretiert vom RSB unter der musikalischen Leitung von Frank Strobel. Auch in diesem Jahr gab es ein gemeinsames Filmprojekt der Deutschen Kinemathek zusammen mit Arte TV, diesmal allerdings mit kammermusikalischer Begleitung: zwölf Instrumentalisten des Orchester Jakobsplatz München (OJM) begleiteten den Film „Das alte Gesetz“ des Regisseurs E. A. Dupont – erstmals mit der neuen Musik von Philippe Schoeller.

Der mit 135 Minuten überlange, in sieben Akte unterteilte Film ist ein für das Jahr 1923 erstaunlich progressives, in seiner Bildwelt vielleicht sogar exemplarisches Kunstwerk. Obgleich „Das alte Gesetz“ den Klassikern des Weimarer Kinos zugeordnet und als wichtiges Werk der deutsch-jüdischen Filmgeschichte rezipiert wurde, ermöglicht erst die mit den zahlreichen ursprünglichen, historisch ermittelten Zwischentiteln trefflich restaurierte und stimmig viragierte Fassung der Deutschen Kinemathek die Wiederbegegnung und korrekte Beurteilung. Dafür musste in einem zweijährigen Prozess jedes einzelne Bild des Films in ein Dampfbad getaucht und anschließend digitalisiert werden.

So kommt der heutige Besucher in den vollen Genuss der Filmhandlung über Baruch, den Sohn eines Rabbiners, der Familie, Freundin, das Ghetto und das dort herrschende alte Gesetz verlässt, um sich seinen Traum, Schauspieler zu werden, zu erfüllen. Er schließt sich einer fahrenden Schmiere an, schneidet seine jüdischen Locken ab und wird durch Protektion der in ihn verliebten österreichischen Erzherzogin Elisabeth Theresia zum Mitglied des Wiener Burgtheaters. Ihre Liebesabsichten muss Elisabeth Theresia auf Druck der Hofetikette aufgegeben und nimmt von Baruch, dem inzwischen gefeierten Burgschauspieler, Abschied mit dem Schlüsselsatz, er habe ihr vom alten Gesetz seines Vaters erzählt und sie müsse nun dem alten Gesetz der Disziplin folgen.

Durch den Besuch eines alten Freundes entschließt sich Baruch nach Hause zurückzukehren und seine verlassene Liebste zu sich zu nehmen. Baruchs alter Vater, der Rabbi, erklärt ihn für gestorben. Doch erkrankt er anschließend schwer und nimmt dies als Gottes Zeichen, Shakespeare zu lesen und im Burgtheater eine Aufführung des „Don Carlos“ mit Baruch in der Titelrolle zu besuchen: er verzeiht dem Sohn.

Ohne jegliche stummfilmtypische Übertreibung, nachvollziehbar und nuancenreich, gestaltet den Baruch der damals noch junge Ernst Deutsch. (Diesem großartigen Darsteller verdankt der Rezensent ein frühes, nachhaltiges Theatererlebnis, als er ihn 1964 als Shylock im Deutschen Theater in München erleben durfte.)

Hinreißend getroffen hat Dupont das Leben der Schmiere mit einer nur dreiköpfigen, fahrenden Schauspielertruppe á la Striese und deren Umsetzung von großen dramatischen Vorlagen in einer zum Theater umfunktionierten Scheune – im Gegensatz dann zum Wiener Burgtheater mit seinem damals bereits enormen technischen Aufwand unter der Direktion des in ernster Kunst-Ausübung unerbittlichen Heinrich Laube.

Die Entwicklung Baruchs zum gefeierten Tragöden schneidet Dupont, mit Ausschnitten aus Schauspielen von Shakespeare und Schiller, immer wieder gegen durch Szenen aus dem Städel, rituellen Handlungen der orthodoxen Juden.

Antisemitismus war ein wichtiges Thema im Film der zwanziger Jahre. Duponts für Verständnis und Aufgeschlossenheit werbende Filmhandlung mit ihren häufig witzigen, auch heutige Besucher noch zum Lachen reizenden Szenen wurde 1923 von Orchestern mit dem damaligen musikalischen Standard-Filmmusikrepertoire begleitet. Die neue Partitur des französischen Komponisten Philippe Schoeller verzichtet bewusst auf jegliche die Handlung synchronisierende oder kommentierende Schilderung. Autonom versucht sie, eine Schicht tiefer zu gelangen, psychische Konstellationen der handelnden Figuren ebenso zu musikalisieren wie den Umgang der Lichtkunst mit Hell und Dunkel. In der Reduktion der Mittel auf einfaches Holz (ohne Fagott), Streicher, Akkordeon und Schlagzeug, reduziert sich dies häufig auf eine Geräuschebene des Schlagwerks, wobei das Becken etwas überbordend eingesetzt scheint. Die atonale, heutige Tonsprache verselbständigt sich. Sie erlangt weitgehende Unabhängigkeit vom Film. Seine Partitur will der Komponist mehr als eine Oper ohne Stimmen verstanden wissen und definiert seine Vorgehensweise gerne als „Das neue Gesetz“. Besonders stark reibt sich Schoellers Musiksprache, wenn der Walzerkönig Johann Strauß im Redoutensaal der Wiener Hofburg zum Tanz aufspielt.

Vom Dirigenten Daniel Grossmann jeweils spätestens an den Aktschlüssen mit deutlichen Einschnitten zusammengeführt, wächst in den Köpfen der Rezipienten gleichwohl Bild- und Klanginformation zu einer Einheit, in gesteigertem Maße bei der Live-Darbietung im Berliner Friedrichstadtpalast.

Die Formation des OJM wird mit dieser Produktion auf Gastspielreise gehen, nach Vilnius, Budapest und Warschau (daher wohl auch die gebotene Beschränkung auf so wenige Instrumentalisten), anschließend wird sie Duponts Filmopus auch in München live begleiten.

Wie die vorangegangenen Stummfilme mit großer Orchesterbegleitung, so hat auch diese Produktion Nina Goslar bei Arte TV federführend produziert. Die Ausstrahlung im deutsch-französischen Kultursender erfolgt zeitnah, allerdings zu nachtschlafender Zeit, am Montag dem 19. Februar um 23:55 Uhr. Wem dieser Zeitpunkt am Anfang der Arbeitswoche zu spät ist, der sei verwiesen auf die rechtzeitig zur Münchner Berlinale vorliegende DVD in der ARTE Edition (Klassiker 3012): ein sich auch im Heimkino sich lohnendes, zum Nachdenken anregendes Klang-Film-Erlebnis.

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