Das Gesamtpaket der MaerzMusik der Berliner Festspiele entstand für die Ausgabe vom 17. bis 26. März 2023 im ersten Leitungsjahr unter Leitung der zwischen Berlin und Kairo lebenden Musikjournalistin, elektronischen Musikerin und Kuratorin Kamila Metwaly. Als Gastkurator beteiligt war der Komponist und Dirigent Enno Poppe.
Die Veranstalter meldeten am Ende 6.000 Besucher*innen zu den Konzerten und Rahmenveranstaltungen. Für einen Besuch, der sich in der ersten Festival-Hälfte umsah, war der Aspekt des interdisziplinären Auftretens und Gestaltens überwältigend. Wie unter den Kurationen vor Metwaly ging es nicht nur um Neue Musik, sondern auch um deren akustische und perfomative Ränder zu anderen Sparten und Ausdrucksebenen. Ein deutlich hervortretender Akzent unter Metwaly war ein weit gefasstes inhaltliches Anliegen zwischen symbolischen Wurzeln und aktualitätsbezogenen Positionierungen von Musik. Die Breitenwirkung der MaerzMusik 2023 ließ sich nicht nur dem ambitionierten Programm, sondern auch den mit Bedacht gewählten Schauplätzen zuschreiben. Das Silent Green bietet im und um das ehemalige Krematorium Wedding einen urbanen Hotspot. Es ist ein gesellschaftlicher Blickfänger, wenn Performance-Schaffende auf dem Hof und an Fassaden posieren, sich mit Klängen zu einem akustisch-choreografischen Ensemble vereinen. Neben dem Friedhof befindet sich eine Grünfläche mit Restauration. Kleinfamilien und Kulturflaneure teilen sich einmütig das Areal. Auch die Elisabethvilla und die St.-Elisabeth-Kirche in Berlin Mitte haben durch ein profiliertes Programm einen starken Kund*innenstamm, der das Angebot der MaerzMusik gern mitnimmt. Die erstmals eingerichtete Library of MaerzMusik im Haus der Festspiele bot ein unaufgeregtes Forum zur Information, Lektüre und zu Rahmenveranstaltungen im Barbereich. Vor allem aber wirkte die Zusammenstellung so, als ob sich die Neue Musik mit Bezügen zum menschlichen Sein, zu den Aufführungsorten und in der Publikumskommunikation aus der Theorie-Verschanzung in den offenen Raum bewegte, mehr atmende Konspiration als distanzierende Setzungen wollte.
Auch bei den gut besuchten Veranstaltungen im Haus der Berliner Festspiele und in der Betonhalle des Silent Green war die Atmosphäre getragen von einer fast heiteren, gelassenen Neugier. Das Festival kam an – bei Fachkreisen, in der Breite und bei zufälligen Zaungästen. Von hoher Wirksamkeit waren die Veranstaltungen mit mehreren Schauplätzen, zu und in denen sich das Publikum bewegte.
Am eindrucksvollsten gewiss im Konzert „Musikgenossenschaft“ (Spółdzielnia Muzyczna) aus Polen am 20. März. Die Stücke von Monika Szpyrka (geb. 1993), Martyna Kosecka (geb. 1989), Artur Zagajewski (geb. 1978) und Paweł Malinowski (geb. 1994) boten ein breites Spektrum an Lautmalereien, maßvoller elektronischer Verstärkung und milder Expression. Die Stücke aus den Jahren 2015 bis 2022 bedienten sich ohne Innovationssucht und folgten einem aus den Erfahrungen der Pandemie entwickelten, fast liturgischen Übergangsritus: „Das Individuum verliert seinen bisherigen Status in einer Gruppe, hat zeitweilig keine gesellschaftliche Rolle und gewinnt einen neuen Status. Diese Initiation ist nicht mehr Teil der Gruppe.“ Die fünf Stücke binden sich zum „Übergangsritus“ dieses Abends, der auch im Wechsel des Konzert-Schauplatzes deutlich wird. Vor wenigen Jahren wäre ein solches Konzept als Exotikum neben einer versachlichten westlichen Musikkonzeption aufgeschienen. Die realen und geistigen Bezüge waren vielfältig. Die Stücke gehorchten einer deutlichen Spezifizierung des möglichen Klangspektrums mit räumlichen Geräuscheffekten, hartem Ächzen und weichen Xylophon-Schwingungen.
„Field 7. Delta“ von Wojtek Blecharz (geb. 1981) für zehn Performer*innen (2021) dauerte im zweiten Teil über eine Stunde. Die Musiker*innen agierten zwischen den im Kirchenschiff liegenden und sitzenden Publikum. Blecharz’ Musik gerät durch die wandernden Instrumente zu starker bis hypnotischer Wirkung. Getragene Akkorde, dynamische Wellen und Schattierungen ergaben ein sehr kurzweiliges Ende des Übergangsritus.
Schwellenöffnungen zwischen dem Virtuosen und dem Spirituellen gab es in anderen Konzertbeiträgen auf zwei Ebenen: Claire Chase spielt Flöte, das älteste Instrument der Welt. Seit 2013 gibt die Amerikanerin im Rahmen ihres auf 24 Jahre angelegten Projekts „Density 2036“ jährlich ein neues Solo-Werk in Auftrag. In der Kuppelhalle des silent green spielte sie Werke von Felipe Lara (2014), Marcos Balter (2023), Pauline Oliveros (1971) und die Uraufführung von Liza Lims „Slow Moon Climbs, the deep“ (2020). Die meisten Werke des Programms akzentuierten eher virtuose Geläufigkeiten als kantable Linien. Im Kontext herausragend wirkte zwei Tage später das Lecture von Liza Lim über ihre Komposition „Sex Magic“, in der sie eine Verbindung der Konventionen des Konzertbetriebs mit „einer alternativen kulturellen Logik weiblicher Macht“ forderte. Vor allem bewies dieses Lecture allerdings die Labilität der postulierten pulsierenden Verbindung von einer Musikbetrachtung aus archaisch verstandenen Impulsen zu den intellektuellen Nischenforen der Neuen Musik. Die Einheit von Auditorium und Interpreten gelang hier weder auf der rationalen noch auf der akustischen Ebene.
Mit lautstarker Begeisterung des Auditoriums endete das Konzert des Ensemble Mosaik, das 2022 sein 25-jähriges Bestehen feierte. Wie der Gastkurator Enno Poppe versteht ensemble mosaik Neue Musik als furiose, auch performativ akzentuierte Freakshow. Ihm gelang im Haus der Berliner Festspiele eine sinnfällig aufeinander beziehbare Werk-Trias. Einmal mehr setzt Sara Glojnarić in „sugarcoating #1“ und „sugarcoating #3“ für Interpreten eine immense Herausforderung. Für das Publikum bleiben die Unterschiede zwischen der Basis des akustischen Materials und dessen kompositorischer Transformation allerdings weitgehend unerkennbar. Glojnarić betreibt Geheimwissenschaft mit Versatzstücken der Popkultur. Damit praktiziert sie einen entgegengesetzten Produktionsprozess wie Liza Lim mit ihrer Wertschätzung eines transparenten musikalischen Evolutionsprozesses. Dieser Kontrast zwischen Synthetik und Spiegel von Evolution, zwischen artifizieller Materialverliebtheit und einer dem Bewusstsein für den Klimawandel geschuldeten Besinnung auf frauliche Geschlechtlichkeit zeichnete MaerzMusik 2023 aus. Von den Komponistinnen dringt vor allem Laura Bowler (geb. 1986) Richtung politische Dimensionen der sozialen Medien. Ihr neues lautes Stück „FFF“ kulminierte in einer sich selbst neben dem Sängerinnenpart zugeteilten Choreografie. Die rhythmischen Überflutungen und filmischen Zusätze kommen aus Posts ihrer Facebook-Community. Mit geballter physischer Präsenz fordert Bowler auf zu impulsiven Reaktionen und Wehrstrategien. Zwischen ihr und Glojnarić wagte Sergej Newski in seiner Uraufführung „Ensembletrilogie III Memory“ eine randalierend wilde Nostalgie mit Filmaufnahmen zur Berliner Loveparade 1997 und direkter, hinter der scharfen Performance versteckten Emotion, die sich als Hommage an ein Vierteljahrhundert künstlerischer Freundschaft mit ensemble mosaik versteht. Wie im 20. Jahrhundert unter Kerlen üblich, verbirgt Newski Rührung hinter rauen Tönen. Generell scheint demzufolge die Selbstermächtigung zu Elfenbein-Kopfgeburten an den drei beobachteten Festivaltagen von Männern auf die Frauen übergesprungen zu sein. Das Festival gibt sich harmonisch, dazu weitgehend ironiefrei. Spürbar ist ein zahmer Abschied von intelligibler Opposition, dringlicher Subversion und Überraschungspotenzial.