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v.l. Vanessa Waldhart, Andreas Beinhauer, Netta Or Foto: © Anna Kolata

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Vampir-Show mit der „Fledermaus“: Patric Seiberts Debüt als Hausregisseur der Oper Halle

Vorspann / Teaser

Bei Prinz Orlofsky tanzen die Vampire und suchen sich unter Johann Strauß‘ Operetten-Figuren ihre nächsten Opfer. Musikalische Feinarbeit prallt in der „Fledermaus“-Neuinszenierung der Oper Halle auf spaltende Ethik-Nachhilfe, die beim Schlussapplaus schon wieder vergessen ist. Fabrice Bollon und die Staatskapelle Halle brillieren, Netta Or (Rosalinde), Vanessa Waldhart (Adele), Andreas Beinhauer (Eisenstein) und Frederic Mörth (Falke) sind in ihren Partien goldrichtig.

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Auf den Gefängniswärter Frosch will man nicht verzichten. Die Frauenquote steigt seit der Besetzung dieser Komiker-Rolle mit Elisabeth Trissenaar bei den Salzburger Festspielen 2001 ständig. Doch nicht die bereits im Film zur Ouvertüre als Vampirjägerin auftretenden Barbara Dussler war Anstoß der Hallischen Publikumsverstimmung. Diese begann nach der Pause mit Dusslers großer Ansprache. „Wir wollen doch lachen“ war deren Refrain zwischen Bahn-Bashing und einer wortgewaltigen Steigerung. Dussler setzte ein Plädoyer für europäische Willkommenskultur mit Verurteilung jeder Ablehnung von afrikanischen Flüchtenden. Im Zuschauerraum regte sich Widerspruch: „Aufhören!“, dann: „Wir haben für Operette bezahlt.“ Pfiffe, Zwischenrufe und große Applaus-Zustimmung mit Lückeninseln.  Die „Fledermaus“-Premiere fand wenige Tage später statt, nachdem „der Verfassungsschutz den Landesverband der Alternative für Deutschland (AfD) als gesichert rechtsextremistische Bestrebung eingestuft hatte.“ (Tagesschau, 07.11.2023) Beim Schlussapplaus wurden die Darstellerin Barbara Dussler und Regisseur Patric Seibert wie alle Mitwirkenden gefeiert. Der größte Teil des Premierenpublikums stieß sich nicht an Dusslers Positionierung,  sondern an deren als belehrend empfundener Attitüde. Dass es sich der Uraufführung im April 1874 im Theater an der Wien – ein knappes Jahr nach dem „Schwarzen Freitag“ des Wiener Börsenkrachs – um eine verzweifelte Lustigkeit handelte, steht in jeder Einführung zu diesem Paradestück.

Sonst geriet der Abend musikalisch bestens und szenisch unterhaltsam. Die Bühnen Halle eröffneten einen „Fledermaus“-Reigen von Neuproduktionen in Nürnberg, München, Leipzig, Gera. In Halle arbeitete man mit löblicher Gründlichkeit daran, dieses bitterböse Amüsement-Feuerwerk zum bittersüßen Zerrspiegel einer düsteren Gegenwart zu machen. Der neue Dramaturg und Hausregisseur Patric Seibert, langjähriger Mitarbeiter von Frank Castorf unter anderem bei dessen Bayreuther „Ring“, setzt das in der Peripherie einer Großstadt spielende Ausbruchs- und Verkleidungsstück also in ein ganz anderes Milieu.

Eine gewichtige Hallische Zutat: Das Stummfilmchen zur Ouvertüre enthält auch, weshalb sich Dr. Falke am reichen Rentier Gabriel von Eisenstein rächen will. Als Falke bier- und schlafselig auf der Parkbank liegt, nähert sich ihm eine Frau und hinterlässt eine sauber modellierte Bisswunde. Und schon flitzt die Vampirjägerin herbei, Barbara Dussler erweist sich später als Gefängniswärter(in) Frosch.

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Netta Or, Ensemble Foto: © Anna Kolata

Netta Or, Ensemble Foto: © Anna Kolata

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Auf Dorota Karolczaks Bühne ragt hinten eine historisch nicht fixierbare Burg auf. Beim Ball des Prinzen Orlofsky erhebt sich der Chor mit federnder Leichtigkeit (Leitung: Frank Flade) aus den aufschnappenden Särgen. Zwischen den Revuevorhängen thront über dem Fest eine Riesenorgel, als käme gleich das Phantom der Oper. Im dritten Akt schließlich bildet statt dem fidelen Kleinstadt-Knast ein Teufelsmaul das Portal zur Operetten-Seligkeit. Seibert gibt in einem Podcast zu, dass seinen vampirischen Einfällen etwas Knirschen im Gedanken-Gebälk zur Folge hatten.

Also gab es Textzusätze, die das frivole Moral-Tohuwabohu für die Gegenwart legitimieren sollten: Vor ihrem „Mein Herr Marquis“ erklärt Adele die Konzept-Gleichung „Kapitalismus = Vampirismus“. Das heißt, Menschen und Menschlichkeit werden aus- und aufgesaugt, die ausgelutschten Massen mutieren. Das wiederum erklärt die Kettenreaktion, warum der zum Vampir gewordene Falke alle zu Vampiren machen will und diese letztlich auch nicht anders funktionieren als in ihrer menschlichen Feinmechanik. Die Choreographin Sofia Pintzou bedient stilvoll das in diesem Stück seit Jahrzehnten klassische Ringelreihen-Gehopse, die Galopp-Einlage des Chors und des tänzerisch hervorragend eingebundenen Statisterie-Ensembles.

Operettisierung ist Gegenwartisierung

Dass Operettisierung immer Gegenwartisierung bedeutet, wurde auch klar. Auf Adeles und Orlofskys mit nekrophiler Zeitlupe gesungenes Polka-Duett aus der Ballettmusik folgt eine Rock-Einlage. Verfremdung muss sein. Adriana Braga Peretzki und Frank Schönwald haben mehreren Darstellenden heiter bis grobe Anleihen aus der cineastischen Vampirologie von Murnau bis Polanski zukommen lassen – vor allem in Schwarz, Gold, Weiß. Das macht Effekt. Als Publikumsschreck kann man Seibert nur dort fürchten, wenn er selbst zur Textproduktion schreitet. Aber er lässt auch alle aus der langen „Fledermaus“-Tradition bekannten Dialog- und Spiel-Sperenzchen unangetastet – mit Ausnahme der sexistischen.

Musikalisch kann sich der Abend bestens hören lassen. Netta Or modelliert eine höhenstarke, leicht kapriziöse und dabei direkte Rosalinde mit gutturalem Edelstich im Timbre. Die Tirolerin Vanessa Waldhart ist die ideale Adele. Noch eine Spur herber als ihre noble Erscheinung ist Yulia Sokoliks Stimme für Prinz Orlofsky, den wenig dominanten Prinzipal im Ballhaus der Vampire. Andreas Beinhauer gibt einen unverschämt sympathischen Eisenstein. Einen mehr wendigen als windigen Falke gibt Frederic Mörth mit Comedian-Harmonists-Charme. Charlotte Vogel als Ida und Barbara Dussler legen viel Fraulichkeit unter ihre bizarren Textaufgaben. Bei Chulhyun Kims Alfred sitzt die Erotik wirklich in der Stimme. Gerd Vogel (Frank) und Robert Sellier (Dr. Blind) behaupten sich erfolgreich im Figurentrubel.

Was für eine vibrierend satte, elegante, und vor allem in den Streicherlinien hochsensible „Fledermaus“ von der Staatskapelle Halle erarbeitet wurde, geht in dieser vampirisierten Operetten-Legende manchmal unter. Fabrice Bollon beherrscht die feine Kunst der inspirierenden Begleitung. Gegen den opulenten Ausstattungswucher behauptet Bollon sich erfolgreich.

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