Allen Anfangs Anfang markiert die Silbe „Ur“, mit gedehntem Vokal. Der mittel- und neuhochdeutsche Laut geht gemäß Grimm’schem Wörterbuch zurück auf das germanische „us“, das sich seinerseits auf das indogermanische „uds“ zurückführen lässt.
So hat selbst noch das uranfängliche „Ur“ seine eigene sprachliche Ur- und Frühgeschichte. Inhaltlich bezeichnet der Laut etwas erstes, initiales, ursprüngliches, unabgeleitetes, originales, primitives, unverfälschtes, reines, elementares. Einem Nomen als Präfix vorangestellt macht die Silbe aus einer x-beliebigen Sache erst kausal zwingend die Ursache und aus einem gewöhnlichen Zustand erst den Urzustand.
Als ein Ursprung und Urbeginn verbürgendes Siegel und Echtheitszertifikat steht „Ur“ auch dem Urknall, Urgrund, Urlicht, Urgestein, Urwald, Urmenschen voran, ebenso der Urwelt, Urkraft, Urform, Urmutter, Urangst … und allen Zauber des ersten Mals verbürgend der Uraufführung.
Jede Uraufführung eines neuen Werks birgt das Versprechen des Uranfänglichen und Aboriginalen samt – kaum anders als bei einem Neugeborenen – aller damit verbundenen Liebe, Erwartungen, Hoffnungen, Sehnsüchte. Nachdem die Musiker ein Werk in Proben schon viele Male für sich selbst gespielt und – hoffentlich! – ordentlich studiert haben, wird es dann bei der Uraufführung zum ersten Mal der Öffentlichkeit präsentiert. Erst mit der Premiere tritt das Stück dank der Hebammenkunst der Interpreten in die Welt, vielleicht noch nackt, verschrumpelt, ungestalt, mit Schorf, wenig Haaren, nicht selten auch mit Geburtsfehlern. Solcher Art in die Welt geworfen, lernt das Stück dann – je nach ersticktem oder markigem, ungehörtem oder vernommenem Urschrei – in weiteren Aufführungen das Laufen, wird flügge, verpuppt und mausert sich, erfährt nach der Urfassung vielleicht noch Überarbeitungen und eine eigene Revisionsgeschichte. Dank verschiedener Pflege- und Zieheltern wird es gepäppelt und entfaltet schließlich seine eigene Rezeptions- und Wirkungsgeschichte. In jedem Fall bleibt seine Existenz datiert auf Tag und Jahr seiner Entbindung.
Auch im März versprechen Uraufführungen viele neue Hörerfahrungen oder gar revolutionäre Runderneuerungen dessen, was wir uns bis dato Musik zu nennen angewöhnt haben. Die seit letztem Jahr unter neuer künstlerischer Leitung von Berno Odo Polzer zum „Festival für Zeitfragen“ umbenannte Berliner MaerzMusik bietet vom 11. bis 20. März neue Stücke von Eduardo Moguillansky, Timothy McCormack und Mazen Kerbaj, eine begehbare Rauminstallation der japanischen Künstlerin Chiharu Shiota mit Musik des Zafraan Ensembles sowie die Premiere des dritten Teils „Liebe“ aus der Musiktheater-Trilogie „Ökonomien des Handelns“ des Videokünstlers Daniel Kötter und des Komponisten Hannes Seidl.
Und am 23. März hebt das Ensemble intercontemporain unter Leitung seines Chefdirigenten Matthias Pintscher in der neuen Pariser Philharmonie zwei neue Werke aus der Taufe: von Pintscher selbst „Mar’eh“ für Violine und Ensemble sowie von Manfred Trojahn „Nocturne – Minotauromachie“. Beide Neugeburten werden fortan hoffentlich nicht, wie einst der kretische Stiermensch Minotaurus vor den Menschen, in einem Labyrinth versteckt gehalten werden müssen.
Weitere Uraufführungen:
10.03.: Howard Skempton, The Daddy Long-Legs and the Fly für Viola und Posaune, 7hours Berlin
13.03.: Hakan Ulus: Ka für die Internationale Ensemble Modern Akademie, Hochschule für Musik und Darstellende Kunst, Frankfurt am Main
17.03.: Hannes Seidl und Michael Quell, Neue Werke für das Ensemble Modern, Wigmore Hall London (Großbritannien)
20.03.: Wolfgang Rihm, Toccata capricciosa für Klavier, Kölner Philharmonie
20.03.: Michel van der Aa, Blank Out, Nederlandse Opera Amsterdam
22.03.: Manfred Trojahn, Four women from Shakespeare für Sopran und Kammerensemble, Osterfestspiele Salzburg