Ein Maskenball auf der Bühne, der vom Team Vincent Boussard-Christian Lacroix(!) gestaltet wird, dazu Verdis schmissiges „Hmtata“ – das müsste doch ein süffiger Abend samt einem dekorativen Königsmord werden. Doch das Bühnenteam und GMD Marcus Bosch überraschten mit ganz anderen Akzenten.
Vielleicht sollten die vier Seiten, in denen Dirigent Bosch die neuen Erkenntnisse der Verdi-Forschung und der kritischen Werkausgabe zusammenfasst, als Vorspann über den schwarzen Bühnenvorhang laufen. Denn selbst der vorgebildete Verdi-Liebhaber ist natürlich durch das jahrzehntelange Hören bisheriger „Italianità“ „verbildet“: vokales Auftrumpfen, veristisches Outrieren, letztlich Anna Russels berüchtigtes „Anything you can sing, I can sing louder“. Bosch führt speziell an, wie viel „Piano“ Verdi komponiert und vorgeschrieben hat, dazu differenzierte Akzentuierungen und Expressionen.
Schon zu Verdis Lebzeiten wurde vieles nicht beachtet, so dass Verdi schrieb, er habe seine Opern nie so gehört, wie er sie komponiert habe … Bosch machte nun mit vielen dieser Vorschriften Ernst – und plötzlich machte das „neue“ Piano mehr als sonst das innere Elend, die „miseria nera“ der Figuren hörbar. Leider führte Mikolaj Zalasinski als Renato nur die alte Bariton-Tradition vor: überzeugende Ausbrüche mit seinem „Prügel“ an Stimme, kaum Farben und keine leidvoll gebrochenen Phrasen – dafür aber heftig beklatscht. David Yim gestaltete mit seinem oft „süß“ strahlenden Tenor das auch von der Regie angepeilte Bild des gerne aus der Realität fliehenden, auch selbstverliebten Künstler-Königs Riccardo differenzierter. Am überzeugendsten gelang Irina Oknina ein Amelia-Porträt, das zeigte, dass Verdi auch hier eine feine Seele inmitten von Männer-Macht scheitern lässt; entsprechend ihrer schlanken, zerbrechlich wirkenden Bühnenerscheinung fehlt ihrem Sopran zwar im großen Liebesduett die Kraft und Glut zur „gran espansione“, doch halb zusammengesunken auf einer großen Polsterbank wurde ihre Lebensabschiedsbitte „Morrò, ma prima in grazia“ noch einmal ihren Sohn zu sehen mit anrührend verschattetem Piano zum emotionalen Höhepunkt des Abends – leider nicht beklatscht, weil eben die Hörerwartungen des Publikums die schluchzend laute Klage wollen.
Aus dem durchweg rollendeckenden Ensemble ragte der gertenschlank flinke Page Oscar von Csilla Csövari heraus. Bei ihren Auftritten zog Bosch mit der Nürnberger Philharmonie auch mal das Tempo rasant an; dazwischen aber lasteten dunkel drohend die Kontrabässe, schwebten die Flageolett-Töne der Streicher und viele Nebenstimmen wurden durch das häufige Piano hörbar. Also nicht ein „toller“, sondern ein Verdi der oft verhaltenen, dunklen Töne, der „tinta nera“ für das innere Elend der Figuren.
Schön, dass auch das Bühnenteam entsprechend Lacroixs Mode-Hintergrund kein opulentes Ballkostüm-Spektakel aus dem Werk machte. Verdis Königsmord-Ausweichen vor der Zensur nach „Boston“ spielte in dem dunklen, leeren Bühnengeviert fast keine Rolle. Regisseur Boussard deutete mit einem hell leuchtenden Rahmen zwar „alte Bilder von …“ an, nutzte das „aus dem Bild treten“ zu den Arien mit intimen Seelenbekenntnissen und erzählte einfach Liebesverstrickung und rächenden Mord. Lacroix kontrastierte einen weiß barock-prunkend kostümierten König mit den durchweg dunklen, puritanisch-calvinistisch Hängegewändern der Gesellschaft samt weißen Mühlsteinkragen. Nur zum finalen Maskenball ging er dann mit protzigen Roben für den gesamten Chor „in die Vollen“, während Amelia und Renato zuvor heutig bürgerlich gekleidet waren.
Doch zwei Bilder von Vincent Lemaire (Bühne), glänzend ausgeleuchtet von Guido Levi, machten stärksten Eindruck. Der Galgenberg mit dem vermeintlichen Liebesheilkraut: ein dunkles, leeres Plateau; die hüfthoch-gefahrenen Seitenwände gaben einen fahlen Lichtstreif frei – und im weiten Raum hing über den lebend agierenden Menschen ein Hingerichteter, wirre Haarmähne, alles ausgebleicht von Wind und Wetter – visueller Horror – und als dann die Verschwörer im Lichtstreif stehend Amelia, Renato und Riccardo „umringen“, war „tödliche Bedrohung“ deutlicher denn je. Den Ball-Saal beschwor Lemaire mit einem „Coup du scène“: ein fast bühnengroßer Ring fuhr langsam hoch und bildete mit den daran befestigten, nach oben führenden, grell weiß ausgeleuchteten Ketten einen „Perlenketten-Lüster“ in Form eines umgekehrten Lilienkelchs, in seinem Zentrum die „Ball-Königin“ Amelia – umwerfend einfach und „phantastisch“. Insgesamt also ein Verdi-Abend mit neuen Akzenten.