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Verfremdung und Entfremdung

Untertitel
Eine neue „Reihe“ mit einem neuen Werk von George Lopez in Stuttgart
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Stuttgarts Freunde und Förderer der Neuen Musik lassen sich nicht unterkriegen. Der Südwestrundfunk hat zwar kürzlich seine künftige Mitwirkung am renommierten Éclat“-Festival aufgekündigt, wird höchstens noch einzelne Konzerte übernehmen, aber keine Kompositionsaufträge mehr vergeben, doch trotz dieser düsteren Nachrichten, zu denen noch die Sorge um den Erhalt des SWR-Vokalensembles tritt, geben die noch
verantwortungsbewussten Gestalter des Stuttgarter Musiklebens, Abteilung Neue Musik, nicht klein bei, schließlich steht im nächsten Jahr das IGNM-Musikfest 2006 ins Haus und es wäre wohl ziemlich blamabel, wenn die Musikstadt Stuttgart sich ausgerechnet zu diesem ehrenvollen Termin als Abbruchunternehmen für Musikkultur präsentieren würde. Über die zum Teil unüberlegten bis absurden Sparpläne der Intendanz des Südwestrundfunks ist hier schon mehrfach kritisch berichtet worden.

Um der Neuen Musik, die von Stuttgart aus schon immer weit in die internationale Szene hineingewirkt und den Ruf des Musiklandes Deutschland gefestigt hat, auch in Zukunft eine tragende substantielle Basis zu sichern, haben sich mehrere Stuttgarter Institutionen zu einer engeren Kooperation zusammengeschlossen, die nicht nur ökonomisch verstanden werden will, vielmehr auch inhaltlich und in der Wirkung nach außen, zum Publikum hin, das in Stuttgart erfreulich zahlreich die Entwicklungen in der Musik unserer Zeit fachkundig und mit Neugier verfolgt. An der Kooperation beteiligen sich die Akademie Schloss Solitude, das Forum Neues Musiktheater der Staatsoper Stuttgart, die „Musik der Jahrhunderte“, die im kommenden Jahr das IGNM-Festival ausrichtet, und sogar der Südwestrundfunk wird als Teilnehmer annonciert. Die neue Einrichtung erhielt den doppeldeutigen Titel „Die Reihe“, Anspielung auf Zwölfton-Kompositionstechniken, aber auch wohl die Hoffnung bekundend, dass aus dem Beginn mit dem ersten Konzert im Theaterhaus auf dem Pragsattel eine möglichst lange „Reihe“ von Folgeveranstaltungen herauswachsen möge.

Für den markanten Auftakt der „Reihe“ verpflichtete man, gleichsam als Hinweis auf die beabsichtigte interpretatorische Qualität der Konzerte, mit dem „Klangforum Wien“ ein internationales Spitzenensemble, das einst vom Komponisten Beat Furrer gegründet wurde und derzeit mit Sylvain Cambreling als ständigem Spiritus rector zusammenarbeitet. Cambreling dirigierte auch das erste „Reihe“-Programm: Werke von Anton Webern, Olga Neuwirth, Tristan Murail und, als Uraufführung, von George Lopez dessen „Blechbläserquintett“ für Trompete, Horn, Tenor-Wagnertuba, Posaune, Kontrabasstuba sowie Zuspielband, das Ganze in fünf Sätzen. Auf dem Zuspielband finden sich drei Zwischenspiele, die zwischen den anderen Sätzen erklingen: Lärm von Bauarbeiten an einem Almweg, Naturgeräusche, Zitate aus einem unveröffentlichten Teil des „Gebirgskriegsprojekts“. Lopez’ mitunter fast mythisch anmutende Affinität zu Gebirgslandschaften ist bekannt. Als thematische Orientierung dient ein wiederkehrendes „Duett“ von Horn und Wagnertuba, dunkle Assoziationen an das romantische Doppelgänger-Motiv weckend. Dunkel ist insgesamt der Grundklang des Quintetts, bizarr oft und grell in der Gestik, wenn sich am Ende ein tänzerisches Thema aus den Klanggestalten herausschält. Lopez, der selbst einmal Hornist werden wollte, „rächt“ sich hier an den nachfolgenden Kollegen, indem er dem Horn fast unüberwindbare technische Schwierigkeiten in die Ventile hineinkomponierte, so dass aus dem Quintett in der Uraufführung ein Sextett wurde, weil sich zwei Horn-Spieler zur Besteigung des aufgetürmten Technik-Gipfels verbünden mussten. Die gleichwohl beeindruckende Wiedergabe durch die „Klangforum“-Musiker überspielte auch den insgesamt etwas disparaten Gesamteindruck, den man vom knapp halbstündigen Werk gewann.

Was für ein glänzendes, technisch und stilistisch perfektes Ensemble das „Klangforum“ ist, zeigten die kompetenten Wiedergaben der anderen Werke. Weberns „Konzert“ für neun Instrumente op. 24 und seine „Fünf Stücke“ für Orchester op. 10 kann man nicht luzider und zugleich mit Ton-Energie aufgeladen spielen, Tristan Murails „Désintégrations“ für Tonband und 17 Instrumente nicht dichter und zugleich analytischer in den prozesshaften Strukturen. Olga Neuwirths „Verfremdung/Entfremdung“ für Flöte, Klavier und Zuspielband (2002) gewinnt im Zusammenwirken der Klangquellen eine faszinierende Räumlichkeit, und Eva Furrers Flöte verdichtete alles noch durch die Intensität des Spiels.

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