Jeden Dienstagabend begann ein neuer Abschnitt des Projekts: ab 19.30 Uhr wurde ein jeweils zehnminütiges Stück für ein Solo-Instrument uraufgeführt, in der Nähe einer Skulptur von Christoph Nicolaus, die aus 96 auf dem Boden liegenden graublauen Steinen besteht; in der darauffolgenden Woche wurden zwei der Steine nach Zufallsoperationen vertauscht; am folgenden Dienstag wieder ein Stück uraufgeführt, danach wieder zwei Steine der Skulptur vertauscht – und so ging es weiter, ohne, wie es scheint, irgendwohin zu gehen. Und gerade deswegen löste sich das Projekt von dem Bombast jener Millennium-Projekte, deren Versuche, die Zeitspanne von 1000 bis 2000 zu fassen, letztendlich immer in die Irre führen. Denn wer von uns hat wirklich die Fähigkeit, das ganze Ausmaß des Wandels im Leben des Menschen zwischen dem Jahr 1000 und dem Jahr 2000 – ja wenigstens zwischen 1900 und 2000 – wahrzunehmen?
Ein von Carlo Inderhees konzipiertes Projekt, das seit Anfang 1997 in der Zionskirche in Berlin-Mitte stattfindet und bis zum 31. Dezember 1999 dauerte, sieht des Datums wegen wie ein Millennium-Projekt aus. Näher betrachtet – und hier geht es bei allen Aspekten um nähere Betrachtung – könnte das Projekt kaum weiter davon entfernt gewesen sein. Jeden Dienstagabend begann ein neuer Abschnitt des Projekts: ab 19.30 Uhr wurde ein jeweils zehnminütiges Stück für ein Solo-Instrument uraufgeführt, in der Nähe einer Skulptur von Christoph Nicolaus, die aus 96 auf dem Boden liegenden graublauen Steinen besteht; in der darauffolgenden Woche wurden zwei der Steine nach Zufallsoperationen vertauscht; am folgenden Dienstag wieder ein Stück uraufgeführt, danach wieder zwei Steine der Skulptur vertauscht – und so ging es weiter, ohne, wie es scheint, irgendwohin zu gehen. Und gerade deswegen löste sich das Projekt von dem Bombast jener Millennium-Projekte, deren Versuche, die Zeitspanne von 1000 bis 2000 zu fassen, letztendlich immer in die Irre führen. Denn wer von uns hat wirklich die Fähigkeit, das ganze Ausmaß des Wandels im Leben des Menschen zwischen dem Jahr 1000 und dem Jahr 2000 – ja wenigstens zwischen 1900 und 2000 – wahrzunehmen? Nichtsdestotrotz ist das Leben jetzt anders. Wahrnehmbar wird dies oftmals eher zufällig, in den kleinen Dingen, anstatt vermittels eines übertriebenen Geschichtsbewusstseins. Vor sechs Monaten saß ich in einem Flugzeug und nahm die Schönheit der unter mir liegenden Wolken wahr, bis zum Horizont; und mir kam der Gedanke: diese seit der Urzeit existierende Landschaft hatte bis vor nur einem Jahrhundert kein einziger Mensch gesehen. Dieses Erlebnis war für mich viel bedeutsamer, als jede digitale Uhr, die anzeigt, wie viele Sekunden es noch bis zum Jahr 2000 sind. Man könnte sagen: das Wesentliche steckt in den Details. Dafür ist das Zionskirche-Projekt ein Beweis. Zeit-Wahrnehmung ist schon in dessen Konzept inbegriffen, vor allem, weil der Kern der damit beauftragten Komponisten – darunter Antoine Beuger, Michael Pisaro, Jörg Frey – der Wandelweiser-Gruppe angehört. Hier hatte ihre Musik den idealen Vorstellungsraum und die ideale Vorstellungszeit: Denn das, was hauptsächlich in einem Wandelweiser-Stück passiert – nur kleinste Veränderungen innerhalb einer Serie voneinander unabhängiger, meistens verhaltener Klänge und Pausen – fand auch hier im Raum und Zeitraum des Projekts statt.Man trifft sich am Dienstagabend auf der Zionskirchenempore; eine Woche geht vorbei; man trifft sich wieder, am selben Ort, zur selben Zeit. Die Veranstaltungen wirkten wie Knoten in einem Faden – ähnlich wie die Klänge in einem Wandelweiser-Stück, oder wie die kleinsten Farbunterschiede, die in den Skulptur-Steinen vorkommen.
Eine Vielzahl begeisterter Komponisten hat in ihrem eigenen Schaffen für das Projekt ähnliches praktiziert, indem sie nicht nur Einzelstücke, sondern Serien von Einzelstücken komponiert haben, die allerdings nur teilweise in der Zionskirche aufgeführt werden konnten: Außer den oben genannten Komponisten gab es Serien von Peter Ablinger, Kunsu Shim, Radu Malfatti und anderen. Solche Stücke formen ihren eigenen kleinen Faden, dessen Knoten über längere Zeit und nicht einfach wöchentlich vorkommen. Eine Ausnahme ist die Serie „bei nacht“ von Wolfgang von Schweinitz, die während der drei Jahre des Projekts jeden Dienstag im düsteren, nächtlichen Monat November vorgestellt wurde.
Insgesamt waren es 32 Komponisten und um die 50 Musiker, die die Musik der Zionskirche entstehen ließen. Die Präsenz mehrerer ästhetischer Positionen bot die Möglichkeit, die Verschiedenheiten innerhalb der experimentellen Musik am Ende des Jahrhunderts (oder besser: am Anfang des nächsten Jahrhunderts) zu beobachten.
Man nahm wahr, dass es Stücke gibt, die von der Dynamik her durchweg leise sind, die aber so durchdacht, sogar durchgeführt sind, dass sie einem gar nicht still vorkommen – zumindest nicht im Vergleich zu Stücken, in denen für zehn Minuten entweder ein Ereignis ständig wiederkehrt oder verschiedene Ereignisse einfach dastehen und sozusagen gar nicht miteinander reden. Allen Stücken gemeinsam ist, dass ihnen ein ständiger Kontrapunkt in Form der Klänge des Zionskirchplatzes gegenübertritt: die singende Straßenbahn, der bellende Hund. Des weiteren gemeinsam ist ihnen der räumliche Zusammenhang mit jener rätselhaften Skulptur von Nicolaus, die nie gleich und nie anders ist.
In den letzten Tagen dieses Jahrtausends wurden viele Retrospektiven gestaltet und vielfach der Versuch unternommen, aufzuzeigen wohin wir gehen. In der Zionskirche ging es im Gegensatz jedoch nicht um Weg weisen, sondern um Wandel weisen. Somit hat das Projekt mit Vorherigem zu tun (es läuft seit 1997) und mit Zukünftigem (es lief bis Ende 1999), aber was dabei wichtig wird, ist das Hier und das Jetzt – dieser Ort, diese Zeit.
Mehrere Leute haben mitgeteilt, dass etwas beinahe Kindliches an dieser Erfahrung wäre: Woche für Woche bemerken wir die einfachsten Sachen – die Änderung der Jahreszeiten, der Klang einer Straßenbahn – wie zum ersten Mal.
Es ist eine unmittelbare Beschäftigung mit der Realität, die erst statthaben kann, wenn wir die Zeit und den Raum haben, sie zur Kenntnis zu nehmen. Hier wird demzufolge eine Ästhetik der Realität entworfen, die mit Realismus als solchem wenig zu tun hat. Denn hier heißt es, die Realität nicht einfach weiterzugeben, sondern zu zeigen, dass es die Realität überhaupt gibt.