Antonio Vivaldis Oper „Il Giustino“ wurde an der Berliner Staatsoper in einer Bearbeitung (Kürzung)von René Jacobs in der Inszenierung von Barbara Horákóva ausgegraben. Zwiespältige Eindrücke von Dieter David Scholz.
Antonio Vivaldis Oper in drei Akten, „Il Giustino“ wurde im Januar oder Februar 1724 im Teatro Capranica in Rom uraufgeführt. Das Stück ist ein pseudohistorisches Drama, in dessen Mittelpunkt Kaiser Justinian I., der Große, steht. Justinian I., der als einfacher Landmann begann und dann eine militärische Laufbahn absolvierte, führte als letzter römischer Kaiser in Byzanz im 6. Jahrhundert zahlreiche erfolgreiche Kriege gegen die Vandalen, die West- und Ostgoten, die Slawen und Perser und stellte damit das römische Weltreich wieder her. Der geschichtliche Hintergrund dient als Grundlage für eine Reihe von Liebesintrigen, Bühneneffekte und schließlich einem Happy End. Die Handlung des verworrenen byzantinischen Spektakels mit Göttern und Dämonen ist wesentlich vor ihrem historischen Hintergrund zu verstehen: die Angst vor der drohenden Türkengefahr, die Venedig und Wien verbindet. Der anspruchslose Text der Oper ist typisch für die im 17. Jahrhundert populären Libretti. Themen wie Liebe, Krieg, Erotik, Gewalt, Wunder und Visionen werden mit Schauelementen verbunden und über eine politische Handlung gelegt.
Das Libretto basiert im Wesentlichen auf Nicolò Beregans Text für Giovanni Legrenzis 1683 in Venedig uraufgeführter Oper Giustino. Beregans Libretto wurde mehrfach von anderen Autoren bearbeitet und vertont, von Vivaldi Tomaso Albinoni und Johann Christian Schieferdecker sowie Domenico Scarlatti und Georg Friedrich Händel.
In den 1920er Jahren wurde „Il Giustino“ wiederentdeckt. Eine kritische Ausgabe der Partitur erstellte der Musikwissenschaftler Reinhard Strohm. Sie ist Grundlage der Berliner Neuinszenierung. An der Staatsoper Unter den Linden, wo das Stück auch bei den diesjährigen Barocktagen aufgeführt wird, zeigt man es in einer von René Jacob (freundlicherweise) zusammengestrichenen und mit Einfügungen bearbeiteten Fassung, die inklusive einer halbstündigen Pause nur vier gegenüber fünf Stunden im Original dauerte. Auf insgesamt elf Arien wurde verzichtet, es gab immer noch reichliche. Darunter eine in der Barockmusik einzigartige Arie (abgesehen von Leonardo Vincis Oper „Farnace“), die mit Psalterium oder Salterio (dem „Hackbrett des Barock“) begleitet wird, die Arie „Ho nel petto un cor si forte“, mit der Giustino den 2. Akt beschließt, wodurch diese einen etwas Sakralen, ja himmlischen Touch bekommt. Trotz der zum Teil bemerkenswerten Instrumentation ist die Musik Vivaldis (einmal abgesehen von den virtuosen, phantasievoll komponierten Arien) relativ schlicht und, mit Verlaub gesagt, monoton. René Jacobs und die Akademie für Alte Musik Berlin tun mit Pauken und Trompeten ihr Bestes, sie farbig, lebendig und aufblühend darzubieten. Indes, es ist ein eher verinnerlichter, intimer Vivaldi, den man hört. Der kurze Abend wird lang. Es gibt wahrhaft effektvollere Stücke des „Prete Rosso“. Das liegt nicht an den Musikern, die sind vorzüglich. Schon gar nicht an den Sängern. Man bietet ein virtuoses Spezialisten-Ensemble der Superlative auf, darunter zwei exorbitante Countertenöre. Es ist ein Sängerfest des barocken Ziergesangs: (Anastasio – Raffaele Pe (Counter), Arianna – Kateryna Kasper (Sopran), Giustino – Christophe Dumaux (Counter), Leocasta – Robin Johannsen (Sopran), Vitaliano – Siyabonga Maqungo (Tenor), Andronico – Helena Rasker (Alt), Amanzio, Fortuna – Olivia Vermeulen (Mezzosopran), Polidarte – Magnus Dietrich (Tenor). Auch der von Gerhard Polifka einstudierte Staatsopernchor absolviert seine wenigen Auftritte mit Anstand und Stil
Die Regie der tschechischen Regisseurin Barbara Horákóva ist es, die mit ihrer belehrenden, arg humoristischen und etwas oberlehrerhaften, plakativen Inszenierung das Stück verharmlost. Die Oper ist zwar ein Lehrstück in Sachen Politik mit Intrigen und Verrat, mit Krieg und Parteienstreit, aber auch eine Projektionsfläche für verschiedene Arten von Liebe. Da die Regisseurin dem Stück, dem (naiven) Libretto und dem Verständnis des Publikums offensichtlich nicht traut, ironisierte sie es, verblödelt es und versieht das szenische Geschehen fortlaufend mit kommentierenden, moralisierenden, psychologisierenden und den Handlungsort bezeichnenden Texten (von Martin Mutschler), die auf eine Treppenstufe der Bühne projiziert werden. Was auch nötig ist, da ihr Thilo Ullrich eine Simultanbühne gebaut hat, die so unkonkret wie barock ist. Bruchstückhafte Kulissen fahren auf und ab, und unablässig dreht sich das zerfetzte Rad der Fortuna, die wie das Schicksal in der Oper eine eminente Rolle spielt. Schließlich wird der Titelheld, Giustino, durch das Schicksal (Fortuna prophezeit es ihm im Traum) vom Bauern zum Kaiser gemacht. Was ist Glück ist denn auch eine zentrale Frage des Stücks, Barbara Horákóva beantwortet sie szenisch mit allerhand Klamauk und Ironie (Charlie Chaplin, Buster Keaton und Laurel und Hardy standen Pate), Getänzel und Gezappel, mit allerhand Lust an der Travestie (das Stück zeigt tatsächlich männliche Frauen und weibliche Männer und Revueanleihen). Dass sie immer wieder auch Kinder miteinbezieht, die holzhammerhaft die Handlung (pantomimisch) kommentieren und symbolische Requisiten ins Spiel bringen, etwa eine gläserne Erdkugel, macht die Inszenierung nicht seriöser. Auch die vielen frivolen, erotischen Neckereien sind zu viel des Guten. Die Kostüme von Eva-Maria Van Acker haben in ihrer grellen Überzeichnung etwas Clowneskes in der glitzernden Spannweite von Barock bis heute. Mit Goldstaub wir nur so um sich geworfen, es dampft und zischt, lärmt und zwitschert je nach angesagter Szenerie, und immer wieder wird der Flugappart der quasi-barocken Bühne bemüht, mal sitzen Amor und Psyche auf einer Wolke, mal Gottvater persönlich. Die vielen Auf- und Abtritte im Zuschauerraum sowie ständiges Theater auf Tuchfühlung vor dem Orchestergraben sind ein alter Hut. Die vom Publikum umjubelte Aufführung ist eine Mischung aus Mythos und Märchen, Slapstick und Barocktheater, aber eben verhohnepipelt.